Lokka táttur (Lokis Erzählung)

Kommentar von Kurt Oertel

 

Bei dem "Lokka táttur" (Lokis Erzählung), der hier in einer Neuübersetzung vorgestellt werden soll, handelt es sich um eine färöische Volksballade, die erstmals in der 1822 erschienen Liedersammlung des dänischen Geistlichen H.C. Lyngbye im Druck erschien. Da der das Färöische aber nicht beherrschte, enthielt die Ausgabe viele Schreib- und andere Fehler. Ein verlässlicher Abdruck erfolgte knapp 30 Jahre später durch V.U. Hammershaimb in seiner Sammlung färöischer Balladen. Eine Übersetzung ins Deutsche wurde 1878 durch Karl Simrock in seiner 5. Auflage des "Handbuch der deutschen Mythologie mit Einschluss der nordischen" vorgelegt, wobei wohl von einer Übersetzung durch Simrock selbst auszugehen ist. Simrocks Verwendung eines für das Lyrik-Verständnis des 19. Jh. berüchtigten Sprachgebrauchs, sowie inhaltliche Freiheiten, Übersetzungsfehler, Auslassungen und eine vor allem oft holprige Vers-Rhythmik (was bei den an griechischen Hexametern geschulten Gelehrten dieser Zeit eher erstaunt), machten diese Neuübersetzung aus dem färöischen Original deshalb geradezu zwingend. So wird z.B. der Riese im Originaltext mehrfach als "skrímslið" bezeichnet, was Simrock als Eigenname missdeutet und demzufolge einen "Skrymsli" daraus macht. Dieser Name würde natürlich sofort an Skrýmir denken lassen, der in Snorris Erzählung Utgard-Loki in Verkleidung ist. Hier ist der Name aber wohl eher von dem altnordischen "skrímsli" (Ungeheuer, Monstrum) abzuleiten, während der Name Skrýmir auf altnordisch "skruma" (schreien, prahlen) zurückgeht. Dafür spricht auch eindeutig, dass "skrímslið" im Gegensatz zu den anderen Namen im Text klein geschrieben ist, also kein Eigenname sein kann.

 

Da die genaue Entstehungszeit nicht bestimmbar ist, kann man das Lied nicht einfach als "wiederentdeckte vorchristliche Quelle" betrachten, nur weil hier die alten Götter auftreten. Das hat so zwar auch niemand behauptet, dennoch gab es nach den ersten Veröffentlichungen des Textes enthusiastische Stimmen, die sich dazu verstiegen, hier ein "verlorenes Edda-Lied" wiederentdeckt haben zu wollen. Den Göttermythen kann der Text aber weder in inhaltlicher noch formaler Hinsicht zugeordnet werden, weil hier ja im Gegenteil der menschliche Bauer und sein Sohn die Figuren sind, um die es eigentlich geht. Zudem folgen Versmaß und Reim eben nicht altnordischen Vorbildern, sondern sind so erstmals in jüngeren spätmittelalterlichen Balladen nachweisbar.

 

Das 19. Jh. aber, das religionswissenschaftlich von einer Zuordnungssucht der Götter zu Naturelementen geprägt war, nahm dieses Volkslied höchst dankbar auf und leitete daraus eifrig eine Verbindung Odins zu den Feldfrüchten, Hönirs zu den Vögeln und Lokis zu den Wassertieren ab, wobei in letzterem Fall Lokis Verwandlung in einen Lachs bei Snorri als zusätzliches Argument ins Feld geführt wurde. Das aber ergab die Schwierigkeit, Loki gleichzeitig dem Feuer "zuzuordnen", wie es davor und danach eher Mode war. Man versuchte deshalb, Elemente der Geschichten um Wäinämöinen und Ilmarinen aus dem finnischen Kalewala mit dem Lied zu verbinden, was sich in heute nicht mehr überzeugenden Spekulationen niederschlug, da die finnischen Mythen nicht dem indoeuropäischen Bereich zuzuordnen sind, wenn auch durch die enge Nachbarschaft der entsprechenden Völker in Skandinavien mögliche gegenseitige Beeinflussungen immer denkbar erscheinen können.

 

Da das Original im modernen Endreim und nicht in einem der alten eddischen Versmaße gehalten ist, wurde der auch für diese Neuübersetzung angestrebt. Das zwang zu minimalen Freiheiten im Text, die aber nie solch inhaltliche oder gar sinnentstellende Abweichungen bedingen, wie bei Simrock. Zudem geht es in diesem Fall auch nicht vordringlich um "wissenschaftlich korrekte Präsentation", sondern einfach um die Vorstellung einer prächtigen und unterhaltsamen Geschichte, die man mit großem Vergnügen lesen kann und die – wie alle färöischen Quellen – den meisten heutigen Heiden weitgehend unbekannt sein dürfte. Die Stropheneinteilung habe ich heutigem Leseverständnis angepasst, um den Textfluss möglichst verständlich zu halten. Im Original handelt es sich um 92 Zweizeiler. Auf zusätzliche Sprecherangaben in Klammern bei wörtlicher Rede wurde verzichtet, weil durchweg klar ist, wer jeweils redet.  

Ein Bauer hat sich mit einem Riesen auf ein Spiel eingelassen, das der Riese gewinnt und als Preis dafür den Sohn des Bauern fordert, den er zu töten gedenkt. Der Bauer ruft in seiner Not nun die alten Götter an, die auch prompt und verlässlich zur Stelle sind. Allerdings erweisen sich Wirkmächtigkeit und Einfallsreichtum der Götter als von unterschiedlicher Natur.