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~ Asatru-Geschichten ~

Die Leben nach dem Tod

 Der ältere Mann spazierte langsam durch das grüne Feld, auf den großen Baum zu. Dieser sah aus wie der gewaltige schwarze Walnußbaum, der einmal in seinem Hof gestanden hatte. So lange her... Ich frage mich, ob er immer noch da steht. Aber dieser hier ist irgendwie... mehr. Mehr ein Baum als alle Bäume, die ich je kannte. Macht das Sinn?

  Er hörte ein Geräusch wie leise schnelle Musik, und nach ein paar Sekunden merkte er, daß es rinnendes Wasser war. Wasser floß aus einem Teich am Fuße des Baums, plätschernd und gurgelnd in einen Bach, der hangabwärts und außer Sichtweite floß. Tüpfel von reflektiertem Sonnenlicht tanzten auf der dunklen Rinde des Baums.

  Der jüngere Mann lehnte an dem Baum, in die Luft blickend. Als der ältere Mann sich näherte, drehte sich der junge um und sah ihn, richtete sich sofort auf und rannte zu ihm.

Mit einem Freudenruf umarmten sie sich.

  "Ach, du bist es", sagte der ältere Mann, als sie in den Schatten des Baumes traten.

"Du siehst jetzt anders aus. Weißt du, daß du elf Jahre alt warst, als ich dich zuletzt sah?"

  "Und das letzte Mal, als ich dich sah, lagst du in einem Sarg im Bestattungsinstitut Welch unten an der Lampkinstraße, und ich war zu ängstlich, um nah ranzugehen", sagte der jüngere. "Aber nichts davon ist hier wichtig. Du siehst jetzt viel besser aus!"

  "Das hoffe ich doch!", lachte der ältere. "Alter und Aussehen sollten nicht mehr wichtig sein, aber an diesem Ort fühle ich mich irgendwie in meinen besten Jahren."

  "Für mich siehst du aus wie...diese Bilder an Martas Wand, diejenigen, die wohl in den Dreißigern gemacht worden sind."
  "Und du siehst so um die zwanzig aus, schätze ich."

Sie starrten sich noch einen Augenblick an, und umarmten sich erneut.

"Es ist so gut, dich zu sehen. Also... wo genau sind wir hier?"

"Dies ist der Baum."

"Das sehe ich. Was für ein Baum?"

"Du würdest es den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nennen."

"Ist das der Garten Eden? Mit dem Fluß, der herausfließt?"

"Du könntest es wohl so nennen. Es ist sicherlich ein Ort des Anfangs."

"Wenn du sagst, ich 'könnte es so nennen'... meinst du damit, daß dies nicht wirklich Eden ist?"

"Nun, ich sehe diesen Baum als Yggdrasil, den Weltenbaum, mit dem Brunnen des Wyrd darunter. Unsere walisischen Vorfahren kannten ihn als die Eiche, wo Lleu Llaw Gyffes seine große Prüfung erlitt, nachdem er von Gronws Speer verwundet worden war. Unsere schottisch-irischen Vorfahren sahen den großen Haselnußbaum, dessen Nüsse in den Brunnen der Weisheit fallen. Die Hindus würden ihn Asvattha nennen, und ich nehme an, daß die Buddhisten ihn als den Bodhi-Baum sehen, unter dem Siddhartha Gautama erleuchtet wurde. Ich glaube nicht, daß dies hier einen Unterschied macht."

"Meinst du damit, daß... du sagst, daß all diese Religionen die gleiche sind?"

"Nein, sind sie nicht. Dein Gott und meiner sind nicht dieselben, und unsere Leben nach dem Tod sind es auch nicht. Aber der Baum ist... nun, er ist was Paul Tillich den Grund Allen Seins nennt. Er ist das, was sein muß, damit irgendetwas anderes existieren kann. Die axis mundi. Der Baum, der absolut alles erhält, was gewesen ist, sein wird und sein könnte. Sein Fuß ist, wo unsere Welten sich überschneiden. Wo wir uns treffen können... eine Zeitlang."

"Also kommst Du nicht mit mir zurück?"

"Es tut mir leid, aber nein... ich komme nicht."

Eine Träne trat in das Auge des alten Mannes.

"Also hast du dich... abgeschnitten? Von deiner ganzen Familie?"

"Großvater, die Tatsache, daß wir uns hier treffen, sollte Dir zeigen, daß ich mich nicht abgeschnitten habe. Nicht wirklich."

"Aber Du... ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber... wo ich jetzt bin, mit meinem Gott, in den Armen von Jesus... da ist ein unglaubliches Gefühl von Frieden davon, mit all meinen Verwandten zu sein. Ich bin wirklich 'zu meinen Leuten genommen worden, alt und voll an Jahren.' Meine Eltern und Großeltern und Brüder und Schwestern, und meine geliebte Frau...deine eigene Mutter... und die Verwandten, die ich nur von Familiengeschichten her kannte, die Gwins und Howells und Zimmers und Beckhams... wir sind jetzt zusammen. Zusammen in einer Weise, in der wir in unseren irdischen Leben nie sein konnten. Ich hatte ein paar Probleme mit meinem Bruder, und einmal mit meinem Sohn, aber alles ist jetzt vergeben. Wir – wir kennen uns. Weißt du nicht, daß du das aufgegeben hast? Daß du dich von uns und unserer Liebe abgekehrt hast?

"Aber jeder dieser Verwandten lebt auch mit mir, in mir."

"Wie kann das sein?"

"Nun... erinnerst du dich an die ersten Zeilen von Beowulf? Hwaet! we Gar-Dena in gerardagum!" Die beiden Stimmen erklangen gemeinsam. "...theodcyninga, thrym gefrunon! hu tha aethelingas ellen fremendon!"1

"Du hast mir das beigebracht, als ich neun war, und ich habe es mein ganzes Leben mit mir getragen. Nicht nur die Worte selbst, sondern auch den Wunsch, sie zu kennen.. mehr zu wissen, die alten Quellen bis an ihre Wurzeln zu erkunden. Und so lange ich lebte und nach Wissen forschte – jedes Mal, wenn ich diese Worte im Sumbel sprach – hast du in mir gelebt. Sogar jetzt is ein Teil von dir in mir lebendig, und du gehst, wohin ich gehe. Und dasselbe gilt für Mama, und Marta, und Onkel Howell , und all die Verwandten, die ich nie getroffen habe, und all jene alten theodcyninga und aethelingas, die tapfere Taten vollbrachten. Wir können nicht wirklich voneinander abgetrennt werden. Die Tatsache, daß wir uns treffen können, hier, ist dafür Beweis."

"Aber du bist immer noch nicht im Himmel mit uns allen."

"Nein, und ich ziehe es immer noch vor, es nicht zu sein. Der Gott, dem du all deine Tage gedient hast – er und ich haben nicht gerade das beste Verhältnis. Ich weiß, das das deine Sehnsucht ist, und es war immer deine Bestimmung; nur habe ich mich anders entschieden. Aber da wo ich bin, geht es mir gut; meine Frau und ich sind zusammen, wir sind glücklich, und wir tun gute Arbeit."

"Ich dachte einmal, daß jeder, der nicht meinen Gott anbetet, in die ewige Bestrafung gestoßen werden würde. Der See, der mit Feuer und Bimsstein brennt."

"Aber wie könnte dein Gott mich in die ewige Bestrafung werfen, ohne dich auch dorthin zu tun, da du in mir bist und ich in dir? Sieh es mal so: Glaubst du wirklich, daß du oder Mama, oder irgendeiner aus unserer Familie in ewiger Glückseligkeit leben könnte in dem Wissen, daß jemand, den sie wirklich lieben, in endlosem Schmerz ist, der nie enden wird?"

"Ich verstehe..."

"Die einzigen Leute, die ewige Bestrafung erhalten, sind die, die sich von allen Bindungen abgeschnitten haben. Eidbrecher und Mörder... sie landen in einer Welt aus Eis und Gift, oder so geht die Metapher in meinem Glauben. Aber das ist grundsätzlich das Schicksal, daß solche Leute sich selbst erschaffen; sie versetzen sich selbst nach Niflhel, schon bevor ihre Körper sterben."

"Jetzt erklär mir das nochmal– du bist immer noch auf der Erde. Wie geht das?"

"Nun, nicht alles von mir... aber das, was du wohl mein Bewußtsein nennen würdest, oder ein Teil davon, ist dageblieben. Ich nehme an, dein Urgroßvater Zimmer hätte mich einen Alb oder Tatermann genannt. Ich bleibe auf dem Land, wo meine Familie lebt, und passe auf sie auf. Ich helfe dabei, dafür zu sorgen, daß keine enthusiastischen Wildjäger hineinwandern, und daß der Boden fruchtbar bleibt, und daß das Unkraut im Garten nicht zu hoch wird, und all das. Weißt du, das Land trägt Früchte, das eigentlich nicht da wachsen können sollte – dank mir."

"Na, das hört sich doch genau nach meinem Broccoli in 1952 an! Der Vorsitzende der Schule für Agrikultur in Mississippi A&M konnte keinen Broccoli in seinem Garten wachsen lassen – aber ich in meinem! In diesem furchtbaren roten Ton, der für nichts zum Wachsen gut ist!"

"Hört sich an, als hätte ich mein eigenes Talent von dir geerbt!"

Sie lachten zusammen. Dann wurde der alte Mann ernst.

"Aber ist das alles?"

"Nein. Ein Teil von mir paßt auf meine Ländereien auf. Aber ein Teil meiner Seele ist in meinen eigenen Nachkommen lebendig... so wie ein Teil deiner Seele in mir lebendig ist. Und nicht nur unsere genetischen Nachkommen: Teile unserer Seelen leben in jedem Studenten,  dessen Leben wir berührt haben. Jeder einzelne von diesen Mississippi-Bauernjungen, die du, wenn auch nur für einen Moment, überzeigen konntest, daß Geoffrey Chaucer vielleicht doch etwas zu sagen hat, das sie hören möchten... und jedes von ihren Kindern und Kindeskinder, deren Familien sie ermutigten zu lernen, weil du da warst... das ist ein Teil von deinem Leben nach dem Tod. Und in jedem von diesen Leuten aus Arkansas, die ich überzeugen konnte, daß Charles Darwin vielleicht doch nicht der Antichrist ist. Und in jedem von jenen Heiden, die etwas von mir Geschriebenes gelesen haben und zum Schluß kamen, daß ein Körnchen Verstand darin sein könnte."

"Auch in deinen heidnischen Lesern?"

"Ja. In allen drei."

Sie kicherten still vor sich hin. "Das alles erinnert mich an das Buch Ecclesiasticus—'All diese haben Ruhm errungen in ihren Generationen, und wurden gepriesen in ihren Tagen... diese waren Männer der Gnade, deren göttliche Taten nicht versagten: Gutes überdauert in ihrem Samen, ihre Nachkommen sind ein heiliges Erbe, und ihr Same stand ein in den Treueschwüren. Und um ihretwillen bleiben ihre Kinder für immer: Ihr Same und ihr Ruhm wird nicht aufgegeben werden. Ihre Körper werden in Frieden begraben, und ihr Name lebt von Generation zu Generation weiter.'"

"Nun ja, genau so. Obwohl mein eigenes heiliges Buch etwas weniger wortreich ist—

'Vieh stirbt, Verwandte sterben, jeder Mensch ist sterblich: Aber der gute Name stirbt nie von einem, der gut gehandelt. Vieh stirbt, Verwandte sterben, jeder Mensch ist sterblich, doch ich weiß eins, das niemals stirbt: Der Ruhm der großen Toten.'"

"Also gibt es mehr als eine Form der Unsterblichkeit."

"Natürlich! Erinnerst du dich an deine geliebte Illias und Odysee? Der Schatten von Achilles treibt sich im Hades herum - aber die Unsterblichkeit, die er am meisten wollte, und bekam, war sein kleos aphthiton, sein unsterblicher Ruhm. Und sogar nach dem Tod freut er sich über die mächtigen Taten seines eigenen Sohnes; das ist noch eine weitere Weise, auf der er fortlebt."

"Kleos ist eins der zentralen Themen der Illias. Von dem ich, wie ich bemerken möchte, sichergestellt habe, daß meine Mississippi-Bauernjungen es auch gut lernen."

"Homer hatte im Prinzip recht – und so auch die Angelsachsen und Nordmänner. Es gibt mehr als eine Art, nach dem Tod weiterzuleben. Ich erforsche sie alle immer noch."

"Was meinst du mit 'sie alle'?"

"Ok, das ist schwer zu erklären. Aber Seelen haben viele Teile – während ein Teil von mir über meine Familie wacht, und ein Teil von mir in meinen Nachkommen weiterlebt, hat ein anderer Teil die Freiheit zu reisen."

"Reisen?"

"Ich bin durch einen ziemlich großen Happen des materiellen Universums gestreift. Habe neue Sterne beim Entstehen beobachtet, und alte Sterne beim Explodieren. Von innen. Ich habe Fossilien gefunden, von denen keiner meiner Kollegen jemals geträumt hätte, und von denen sie noch zwei Jahrhunderte lang nichts wissen werden. Ich habe eine ganze Menge wissenschaftlicher Probleme gelöst. Götter, die Forschungsberichte, die ich jetzt schreiben könnte! Hast du jemals Mark Twains Geschichte "Captain Stormfield´s Visit to Heaven" gelesen?"

"Natürlich."

"Erinnerst du dich? 'Ewige Ruhe hört sich von der Kanzel aus auch beruhigend an. Nun, probier es einmal, und stelle fest, wie schwer sich die Zeit auf dich legen wird. Nein, Stormfield, ein Mann wie Ihr, der sein ganzes Leben aktiv und umtriebig war, Ihr würdet verrückt werden nach sechs Monaten in einem Himmel, wo es nichts zu tun gibt.'

Der verstehende und lernende Teil von mir ist nicht an meine alten Lande gebunden; ich kann überall hingehen und alles lernen, was mir einfällt. Ich bin endlich frei, soweit zu wachsen wie ich kann, und immer weiter."

"Das ist für uns in unserer Sphäre genauso, weißt Du? Gerade vor wenigen Tagen konnte ich endlich ein paar Probleme mit Textrezensionen mit dem Ehrwürdigen Beda selber klären. Nun, es wir haben natürlich nicht 'Tage' oder so etwas, oder irgendeine Art Zeit, aber es fühlt sich irgendwie wie vor einigen Tagen an. Und Chaucer und ich haben eine prima Zeit verbracht, Parliament of Fowles zu diskutieren. Ich schaffe es, beschäftigt zu bleiben und doch nicht müde zu werden. Twain hatte Recht: 'Mein Verstand wird älter, und stärker, und gereifter, und befriedigender.'"

"Siehst du? Egal wo du landest, dein Geist kann weiter wachsen. Twain hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Was könnten sich denn Leute wie wir mehr wünschen als die Chance, weiter zu arbeiten und wachsen und lernen?"

"Das ist wahr. Aber.. eine Sache stört mich. Wo ich bin, im Himmel, stehe ich nicht nur in der Gegenwart meiner eigenen Verwandten und Freunde, sondern auch in liebevoller Vereinigung mit meinem Gott. Ich hatte den Eindruck, daß die Anhänger eurer Götter belohnt werden, indem sie in Valhalla oder einem ähnlichen Ort aufgenommen werden, um mit ihnen zu feiern. Warum ist dir das nicht passiert?"

"In einer der Sagas aus Island gibt es eine Geschichte über einen Mann, der ein hingebungsvoller Anhänger des Gottes Frey war. Als er starb und in seinen Hügel gelegt wurde, sagte man, daß Frey zwischen ihnen 'keinen Frost haben wollte' – und sein Hügel war nie mit Schnee bedeckt, sogar wenn der Schnee alles andere überdeckte."

"Gislis saga surssonar?"

"Die ist es! Nun, so ist es auch jetzt... es gibt keinen unüberbrückbaren Abgrund zwischen der materiellen Welt und den Bereichen unserer Götter. Christliche Theologen haben eine Menge über die unendlichen Abstand zwischen der Heiligkeit Gottes und der unwürdigen Erbärmlichkeit der Erde geredet – aber es ist nicht so, nicht für uns. Nur weil ich mein Bewußtsein so erlebe, daß es immer noch auf der Erde ist, heißt das nicht, daß meine Götter nicht mit mir sind. Sie sind da. Frey ist in jedem aufschießenden Grashalm, und Odin in jedem wilden Wind, und Thor in jedem Gewitter, und Skadhi in jeder kühlen Brise. Und ich bin mit ihnen, und rede mit ihnen... und ich kenne sie viel besser, als ich es je als Mensch konnte."

Sie standen ein paar Augenblicke schweigend zusammen. Dann sprach der ältere.

"Ich habe das Gefühl... ich sollte... zurückgehen."

"Ich habe auch einige Dinge zu tun."

"Das war so... sehe ich dich wieder?"

"Natürlich. Wann immer du willst. Und Mama, und Marta, und die ganze Familie – wir können uns jetzt alle hier treffen. Wir werden eine Wiedervereinigung haben, wann immer ihr es wollt. Wir haben alle Zeit der Welt."

"Das... das ist wunderbar. Aber wie komme ich hierher zurück?"

Der jüngere Mann langte nach oben und pflückte eine Frucht von dem Baum, nahm einen Bissen, und hielt sie dem älteren Mann hin, der hineinbiß. Es war keine Frucht, an die er sich erinnern konnte. Apfel? Ja, aber was für eine Sorte? Und da ist noch Haselnuss in dem Geschmack...

Ohne zu sprechen, bückten sich beide zu der Oberfläche des Teiches, schöpften mit den Händen etwas von dem Wasser und tranken es. Der ältere fühlte die süße Kühle hinten in der Kehle, wie sie einen Durst löschte, von dem er nicht mal gewußt hatte, daß er da ist... und dann lächelte er, als er spürte, wie sich sein Verständnis ausdehnte. Nun schaute er den Baum erneut an, und er konnte erkennen, was er wirklich war. Er schaute seinen Enkel an und sah, wer er wirklich war, und wußte, das sein Enkel ihn auf dieselbe Art sah.

Sie umarmten sich für einen langen, langen Augenblick, während eine Brise durch die Zweige des Baumes rauschte und die Wasser des Brunnens endlos tanzten.

© Original: "Afterlives",  Ben Waggoner vom Troth
© Übersetzung: Michaela Macha

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