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Asatru-Geschichten ~
Helja
Harmond kämpfte mit letzter Kraft. Tiefe Wunden schwächten seinen Körper,
während seine Sinne immer wieder zur Wagenburg glitten, in welcher neben vielen
anderen auch seine Frau und sein kleiner Sohn auf den Sieg der Kämpfer hofften.
Er sah den Speer nicht kommen, der ihn von hinten durchbohrte. Sein Körper
stürzte zu Boden, wo er zwischen unzähligen anderen Leichnamen wartete. Kaum
endete der Schlachtenlärm, nahten die Walküren. Harmond reckte ihnen den toten
Arm entgegen, hoffend, sie würden auch ihn erwählen. Doch sie glitten vorüber
und nahmen andere mit nach Folkwang und Walhall.
Verwirrt findet er sich lange danach am Ufer des reißenden Flusses Gjöll. Es ist
düster umher und tief wehende Nebel tauchen alles in eine gewisse Düsternis und
erlauben keine weite Sicht. Um so heller aber erstrahlt vor ihm die goldene
Brücke Gjallarbru, die ihm wie Verheißung und Ziel erscheint. Eine junge Riesin,
die sich selbst Modgudr nennt, vertritt ihm den Weg, fragt nach seinem Namen und
Geschlecht. Er will antworten, doch da ertönt ein leises Lachen im Nebel. Eine
Frau tritt neben Modgudr und gab an seiner Stelle die Antwort. Er wagt kaum, sie
anzuschauen, denn er erblickt einen zwar jungen, doch durch Leichenfäule
bläulich verfärbten Leib.
„Er war Odin nicht tapfer genug,“ erklärte die Frau der Riesin mit vergnügter
Stimme, ehe sie sich Harmond zuwendet und fortfährt: „Komm mit mir, ich führe
dich.“ Er gehorcht zögernd, hält deutlichen Abstand zu ihr. „Du mußt dich nicht
fürchten,“ verspricht sie gelassen. „Dies ist mein Reich. Dir geschieht kein
Leid.“
Harmond schweigt voll Unruhe. Helja selbst war gekommen, ihn zu führen. Er
entsann sich mancher Erzählung über diese Göttin, die doch eigentlich eine
Riesin war. Missionare eines fremden Gottes berichteten von unzähligen Schrecken
in ihrem Reich. Er erinnert sich aber auch an die Geschichten seiner Großmutter,
die vom Frieden der Helja sprach.
Sie hatten die Brücke überquert. Ein riesiger, furchterregender Hund springt
ihnen mit weit aufgerissenem Maul entgegen. Schon will sich Harmond vor Furcht
in den Gjöll stürzen, als das mächtige Tier sich vor Helja nieder wirft. Die
Göttin fährt ihm mit beiden Händen durchs dichte Fell, krault ihn hinter den
Ohren und läßt sich sein aufgeregtes, aber liebevolles Schlabbern gefallen.
„Das ist Garm,“ erklärt sie ihrem Begleiter. „Er erinnert mich sehr an meinen
Bruder Fenris.“ Ihre Stimme klingt etwas dunkel. „Garm hat es besser getroffen
als er,“ fügt sie an.
„Die Asen haben Fenris gebunden.“ erinnert sich Harmond. „Er ist gefährlich. Er
hat Tyr verstümmelt.“
„Kein Hund beißt die Hand, die ihn füttert,“ erwidert Helja langsam, „es sei
denn, man fügt ihm unerträgliche Schmerzen zu.“ Sie schiebt wie zum Beweis ihre
Hände tief in Garms Maul und küßt zugleich seine Stirn. „Kein Schmerz wirkt
tiefer als Verrat,“ fügt sie hinzu, ehe sie sich von Garm löst und den Weg
wieder aufnimmt.
Harmond folgt ihr, schaut sich dabei aber immer wieder nach Garm um. Der riesige
Hund bleibt zurück.
„Du liebst dieses Ungetüm?“ fragt er vorsichtig, nachdem ihm der Abstand sicher
erscheint.
„Er versucht, mir die Trennung von meinem Bruder zu erleichtern,“ gibt Helja zu.
„Eines Tages wird er Fenris rächen und Tyr vernichten.“
„Er ist ein Wolf,“ murmelt Harmond und es klingt wie eine Beschuldigung.
Helja lächelt, doch er sieht es nicht, da er immer noch nicht wagt, sie
anzuschauen.
„Ja, das ist er,“ bestätigt sie ruhig. „Mein anderer Bruder, Jormungand, ist
eine gewaltige Schlange. Und auch ich sehe nicht wie eine Riesin oder Asin aus.
Aber wir waren eine Familie und haben einander geliebt. Unsere Mutter Angrboda
sorgte gut für uns und tat alles, damit wir unseren Vater Loki, der nur selten
zu Besuch kam, nicht zu sehr vermißten.“ Sie gehen durch eine hohe, eiserne
Umzäunung. „Als Mutter starb, haben die Asen uns zu sich geholt. Sie haben uns
beobachtet. Sie hofften wohl, wir würden wie sie. Als sie erkannten, daß wir
nicht bereit waren, unsere riesische Abstammung zu verleugnen, warfen sie
Jormungand ins Meer. Sie hofften, er würde ertrinken, doch es gelang ihm, im
Wasser zu atmen. Er wächst und wächst, umschließt ganz Midgard und hofft gleich
mir, daß wir irgendwann Fenris befreien können.“
„Die Asen waren nicht gut zu dir,“ murmelt Harmond, der vor kurzem nichts mehr
wünschte, als nach Walhall zu kommen und Odin zu schauen und der jetzt nicht
mehr sicher ist, ob das wirklich so gut sei.
„Sie haben mich getötet,“ antwortet Helja achselzuckend. „Sie warfen mich nach
Niflheim und dachten, daß das kleine Mädchen vergessen werden könne.“ Sie lacht
leise und dieses Lachen klingt mehr erheitert denn verbittert. „Vor Beginn der
Zeit gab es mein Reich und es wird nach dem Ende der Zeit bestehen.“
„Dein Vater ließ es geschehen?“
„Was sollte er tun? Zum einen denkt er, die Asen seien seine Freunde und wüßten,
was wichtig und richtig sei. Zum andern aber mußte er annehmen, daß Jormungand
und ich gestorben sind. Wenn er sich still verhielt, konnte er wenigstens
Fenris‘ Los erleichtern. Er besucht meinen Bruder oft und dann ist Fenris auf
eine Zeit befreit von dem Schwert, das in seinem Maul steckt. Und inzwischen
weiß er, daß Jormungand und ich seiner Hilfe derzeit nicht bedürfen.“
Der Weg führt nordwärts und bergab. Die Nebel sind dichter geworden. Es wird
finster. Ein schlammiger Fluß wälzt sich in der Nähe dahin. Harmond vermag
nicht, durch den dichten Nebel deutlich zu schauen, doch ihm ist, als trieben im
trüben Wasser unzählige Leichname.
„Fürchte dich nicht,“ mahnt Helja. „Wir nähern uns der Wurzel des Yggdrasil.“
Harmond nickt. Noch immer schaut er die schwarze Göttin nicht an, deren Äußeres
ihn traurig stimmt, deren Schicksal aber ihn tief berührt. Er denkt daran, wie
liebevoll sie Garm streichelte, wie sehnsüchtig sie von ihrer Familie sprach. Er
wüßte gern ein Wort des Trostes für sie.
Helja lächelt still. Sie spürt seine Gedanken mit gewisser Verwunderung. Dieser
Krieger verehrte Odin, Tyr, Thor – noch immer denkt er an die Asengötter als
hehre Wesen. Zugleich aber empfindet er Mitleid für sie, die sie doch Königin,
Göttin ist in ihrem urewigen Reich.
Mitten in Niflheim steht der Brunnen Hvergelmir, den sie nun erreichen.
„Hier entspringen die Flüsse der Welt,“ erklärt Helja. „Aus dem Land der Nebel,
aus Niflheim, kommt alles Wasser, das Leben gibt. Du solltest nicht näher
gehen,“ rät sie dann.
Harmond verhält den Schritt. Er gewahrt eine Bewegung. Erschaudernd begreift er,
daß die wogende Masse vor ihm der Leib eines Lindwurmes ist und mit Entsetzen
sieht er das Ungeheuer menschliche Leiber verzehren. Verzweifelt birgt er das
Gesicht in den Händen.
„Dies ist mein Schicksal,“ flüstert er voll Furcht.
„Dies ist das Schicksal allen Lebens,“ erwidert Helja mit ruhiger Stimme. „Was
anderes soll aus den abgelegten, toten Körpern werden, als daß Würmer sie
verspeisen? Die meisten Würmer sind klein, aber es sind ihrer viele, die das
Werk verrichten. Warte hier. Es wird dir kein Leid geschehen.“
Harmond wagt ohnehin keine Bewegung. Es dauert lange, bis er die Hände sinken
läßt. Nun sieht er Helja, die bei dem mächtigen Lindwurm steht, zärtlich gegen
dessen mächtigen Kopf lehnend, der größer ist als ihr schlanker Leib. Sie reden
vertraut miteinander.
Harmond erschrickt, als er eine Bewegung in seiner Nähe bemerkt. Doch es ist nur
ein Eichhörnchen, das den Stamm Yggdrasils herunter kommt, dem Lindwurm einige
Worte zurufend. Es wird von Helja vertrieben. Sie verweilt lange. Endlich kommt
sie zurück und nimmt den Weg wieder auf.
„Hat dich der Rattenzahn erschreckt?“ erkundigt sie sich heiter.
„Ich habe großen Schrecken befürchtet,“ gibt Harmond zu.
„Oh, Ratatoskr ist ein Ärgernis, kein Schrecken,“ verspricht Helja fröhlich. „Er
hat nichts anderes zu tun, als böse Worte zwischen dem Drachen Nidhöggr und dem
Adler im Wipfel Yggdrasils hin- und herzutragen. Glaube mir, die Boten böser
Worte sind viel gefährlicher als alle Lindwürmer.“
„Mag sein,“ brummt Harmond, der jetzt fast aufgesehen hätte, aber doch nur einen
verstohlenen Seitenblick auf die Göttin wagt, „trotzdem ist mir die Nähe eines
Eichhörnchens lieber.“
Sie lacht und ihr Lachen klingt so hell und rein und fröhlich, daß er sie nun
doch anschaut. In diesem Moment stößt ihn ihr schwarzes Äußeres nicht ab. Als
sie ihm aber das Gesicht zuwendet, senkt er rasch den Blick.
„Nidhöggr ist wirklich groß geworden,“ gibt sie dann zu. „Er ist wie ein großer
Junge. Er nagt an Yggdrasils Wurzel, obwohl er gar kein Holz mag. Aber er meint,
wenn er Yggdrasil stürzen kann, wird die Welt neu geordnet.“
„Erinnert er dich an Jormungand?“ erkundigt sich Helmond vorsichtig.
Sie nickt.
„In gewisser Weise ist es wohl so,“ gibt sie zu. „Er ersetzt mir den verlorenen
Bruder, den ich im Meer um Midgard nicht besuchen kann.“
„Aber er ist ein Wurm, der Leichen frißt,“ murrt Harmond mit unsicherer Stimme.
„Das muß er tun, den es entspricht seiner Art. Auf diese Weise werden die toten
Leiber wieder zu Erde und aus der Erde entsteht neues Leben. Ich habe dir doch
gesagt, daß in meinem Reich, in Niflheim, der Ursprung von allem liegt. Und
alles muß immer zu seinem Ursprung zurück.“
Der Nebel lichtet sich. Sie erreichen einen großen, festlichen Saal, gehen aber
nicht hinein. Helja sagt nur, daß dort ihr Wohnsitz sei und Helmond staunt, weil
alles hier licht und klar wirkt, sich geschmückt zeigt und keine Düsternis
verströmt.
„Dies ist Eljudnir,“ erklärt Helja, „hier wohne ich. Aber für dich ist dies kein
Ort.“
Sie führt ihn weiter. Die Pfade werden breiter, der Nebel lichter. Die Hecken
weisen keine langen Dornen mehr auf, die Flüsse wirken klarer. Teiche finden
sich nun hier. Harmond bemerkt andere, die sind wie er.
Die ganze Zeit, die er mit Helja ging, hielt er sich für eine Ausnahme,
glaubend, sein trostloses Schicksal sei nur aufgeschoben. Nun ahnt er, daß es
keine Trostlosigkeit gibt.
„Ich freue mich für dich, daß Garm und Nidhöggr deinen Verlust mindern,“ gesteht
er da. „Man hat dich aus Jötumheim entführt, aus Asgard verbannt – aber hier in
Niflheim fandest du deinen Ort. Ich bin nicht sicher, ob du wirklich verloren
hast bei alledem.“
„So meinst du jetzt, daß Niflheim ein guter Ort sei?“
„Es ist der Ursprung von allem und auch sein Ziel. Ja, es ist ein guter Ort,“
bestätigt Harmond überzeugt.
„Dann will ich nun deinen Verlust mindern,“ erwidert Helja mit ernster Stimme.
Sie deutet über die Wiese. Sein Blick folgt ihrer Geste. Harmond vermag nicht zu
fassen, was seine Augen schauen. Dort, nur wenig entfernt, sieht er die vermißte
Gattin, den ersehnten Sohn. Erst jetzt erfährt er, daß sie sich nach verlorener
Schlacht selbst den Tod gaben. Flüchtig denkt er an Walhall. Und glücklich weiß
er sich nun in Niflheim, vereint mit den seinen; schon ahnend, daß er auch jene
finden wird, die vor ihm über die goldene Brücke gingen.
Und endlich wagt er es, den Blick frei zu erheben. Helja lächelt, als er sich
jetzt nicht mehr von ihr abwendet. Ganz langsam wendet sie das Gesicht, dreht
schließlich den Leib. Harmond sieht ihre helle Seite.
©
Renate Steinbach
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