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~ Asatru-Gedichte ~

Odin und die Asatru

An einem warmen Tag in einer kleinen Stadt in Midgard saßen zwei Männer an einer Bushaltestelle. Ein zufälliger Passant hätte sie nicht weiter beachtet. Einer trug eine nicht mehr ganz saubere Khaki-Hose und schicke schwarze Turnschuhe. Seine obersten Hemdknöpfe waren offen und gaben den Blick frei auf ein schwarzes T-Shirt, von dem sich ein kleiner silberner Anhänger in Hammerform abhob. 
Er blickte sich wiederholt verstohlen nach dem Bus um; zwar wußte er, daß es dafür noch etwas zu früh war, doch etwas machte ihn unruhig.

Sein Gefährte sah alles andere als unruhig aus. Er lehnte sich gemütlich auf der Bank zurück; die Säume seiner abgewetzten Jeans flatterten etwas in der Brise. Er trug ein altes Sweatshirt der Minnesota Vikings, und sein großer Hut überschattete den grauen Bart bis zu den Spitzen des Hörnerhelms auf dem Sweatshirt. Die Schuhe - eine Kreuzung aus Sneakern und Stiefeln - überkrustete eine dünne Lehmschicht. Fast schien er die offensichtliche Unruhe seines Gegenübers zu genießen, während er mit seinem Gehstock spielte.

"So", sagte der Mann in dem Vikings Sweatshirt, "Schöner Tag heute, nicht?"
"Äh, ja", sagte der andere, zusammenzuckend, als hätte ihn jemand plötzlich aus dem Tiefschlaf geweckt.
"Und, wie heißt Du ?", fragte der graubärtige Mann.
"Knott..." sagte der andere, in der Hoffnung, das Gespräch mit dem komischen Alten an dieser Stelle beenden zu können, "Dieter Knott."
"Interessanter Name", sagte der ältere Mann. "Mir ist eben dein Anhänger aufgefallen. Bedeutet er etwas besonderes, oder trägst du ihn nur wegen der Optik?"
Dieter stotterte, er haßte diese Frage, auch wenn es nicht das erste Mal war.
"Nun... es ist etwas, äh, Spirituelles."
"Ah", sagte der andere "so wie... New Age, oder so?"
"Ja", sagte Dieter und bemerkte zum ersten Mal, daß eins der Augen des andern nicht ganz richtig blickte, vielleicht ein Glasauge, "so was in der Art, es.. es hat was mit der alten skandinavischen Religion zu tun."
"Soso. Du meinst, mit Thor und Frey und all diesen Göttern?"
"Ja", sagte Dieter, erleichtert, daß er zur Abwechslung nicht alles komplett von vorn erklären mußte, während ihn jemand mit großen Augen und offenem Mund anstarrte, als wüchse ihm ein Fisch aus dem Kopf. "Haben Sie davon gehört?"
"Ich glaube, ich hatte vor langer Zeit mal einen Kurs darüber an der Uni." Der Alte zwinkerte ihm mit seinem normalen Auge zu, das andere starrte Dieter reglos und durchbohrend an. "Ich wette, du weißt alles über ihre Geschichte und so weiter ?"

"Oh ja!" Dieter wurde rot vor Aufregung. Diese Art Unterhaltung gefiel ihm. Er hatte monatelang die Eddas und Sagas studiert, hatte sich im Internet die Nächte um die Ohren geschlagen, um jedes bißchen Information aufzuschnappen. Er war bis zum Bersten angefüllt mit mit Wissenschaft, Zitaten und Meinungen. "Ich weiß da schon einiges über die Mythologie und Geschichte."
Der alte Mann schien überlegen. "Nun", sagte er, während er von irgendwoher eine braune Papiertüte hernahm, "also kennst du den Namen von Frey´s Boot?" Er öffnete die Tüte und fing an, Körner auf dem Boden zu verstreuen.
"Na klar", sagte Dieter. Zwei große schwarze Vögel ließen sich nieder und begannen, die Körner aufzupicken. "Freys Boot heißt Skidbladnir."
Der andere runzelte die Stirn, als hätte er eine etwas weitschweifigere Antwort erwartet, grunzte kurz und fuhr fort: "Und du weißt wohl auch, wie Thors Hammer heißt?"
"Mjöllnir", sagte Dieter exakt.
"Und wer hat ihn gemacht?"
"Die Zwergenschmiede Brokk und Eitri."
"Und ich nehme an, Du kennst den Namen der Welt, die wie Feuer brennt ?", fragte der glasäugige Mann nachdenklich.
"Das ist Muspellheim", sagte Dieter. Die Unterhaltung fing an, ihm richtig Spaß zu machen. Es war klasse, sich mal mit jemand zu unterhalten, der auch etwas von den Quellen verstand.
"Und die Welt aus gefrierendem Nebel?", fragte der andere, den die Kürze und das schnelle Tempo der Antworten irgendwie zu stören schien. Einer der schwarzen Vögel krächzte.
"Niflheim."
"Wo wird die letzte Schlacht stattfinden?"
"Auf der Vigrid-Ebene."
"Wie ist der Name von Njörd´s Frau?"
"Skadi."
"Und Du weißt, was ich mit den Reden des Hohen meine?"
Dieter dachte kurz nach, "Das Havamal."
"Nun, Du beherrscht deinen Stoff wirklich", sagte der graubärtige, "Du hättest damals meinen alten Prof in die Tasche stecken können, wenn Du im Kurs gewesen wärst. Und, bedeuten Dir die Götter auch was, abgesehen von der Mythologie?"

"Ja", sagte Dieter, unangenehm berührt von dieser Wendung des Gesprächs, von der einfachen Wissenswiedergabe wieder hin zu seinen Glaubensvorstellungen. "Es ist eine Religion namens Asatru, die sich auf die alten Götter und so bezieht."
"Das hört sich schon cool an, Junge", sagte der Graubärtige, "und jetzt habe ich eine letzte Frage an Dich." Dieter sah den Alten an; die beiden Raben hoben erwartungsvoll die Köpfe. Dieters Sicht verschwamm etwas, und er sah, wie das Glasauge schwarz wie Nacht wurde, bis es gar nicht mehr dazusein schien. Des alten Mannes Gehstock schimmerte an der Spitze wie Metall, und in dem hellen Schein schien das Sweatshirt nicht viel anders auszusehen als ein bläulicher Reisemantel. "Wer bin ich?"
Dieter schüttelte seinen Kopf und blinzelte ein paar Mal. "´Tschuldigung", sagte er, "war irgendwie kurz abwesend. Ah... ich kenne Sie nicht, wir haben uns doch gerade erst getroffen."
Der graubärtige Mann in dem Vikings Sweatshirt runzelte die Stirn und sah enttäuscht aus. "Tja, dann wohl nicht, Junge." Er stand auf und nahm seinen Gehstock. "Nun, ich muß weiter. Paß auf wegen all diesen Büchern und Artikeln, Junge, wenn Du zulange diesen gelehrten Kram liest, wirst Du noch blind."
"Ja, vielleicht", sagte Dieter und lachte ein bißchen gezwungen, während der einäugige Mann davonschritt. Er merkte es nicht einmal, als die zwei Raben aufflogen und ihm folgten.

© Original "Odin and the Asatruar": Matthias Wilson
© Übersetzung: Michaela Macha


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