Home
Gedichte: Von mir
Gedichte: Von Euch
Gedichte: Klassisch
Gedichte: Internat.
Asatru-Liederbuch
Musik & CDs
Asatru & Tanz
Geschichten
Stabreim
Lieder-Edda Online
Snorra-Edda Online
Links zur Dichtkunst
Tips zum Schreiben
Über "Skaldenmet"
Gedicht einsenden
Email
Gästebuch
Das Neueste

~ Asatru-Geschichten ~

Was absolut unterhalb ist -
was also von überall her nur „unten“ genannt werden kann –
das ist der Mittelpunkt der Welt.

Albertus Magnus


Zu Besuch in der chemischen Stadt
von Barbara Beyß

„Wissen Sie, was Schwerindustrie wirklich ist?“ flüsterte mein Führer und lächelte mich an mit seinem verbrannten Gesicht.

Ich hatte das schon immer bewundert – die Fabriken hingestaffelt zum Ufer des grauen Flusses, und die brennenden Wolkentürme am Horizont – als Kind waren sie mir wie ein Zeugnis Gottes erschienen, weißes Licht am Weltenrand.

Ich erinnerte mich, wie ich sie einmal gesehen hatte - mit meinem Vater, auf einem Ausflug. Ich erinnerte mich an meinen Vater, der auf seine Weise freundlich gewesen war und voll guter Absicht, wenn auch immer nur halb anwesend, nie wirklich vorhanden, so als sei er gar nicht rechtens zu Hause in der Welt. So als könnte man ihn jederzeit holen kommen, zurück in eine feldgraue Hölle weit vor meiner Zeit. Als sei diese Hölle sein eigentlicher Ort.

In den Falten seiner Jacke trug er alte Gespenster mit sich herum, und die beugten ihn nieder, hingen schwer an seinen Kleidern, die grau waren wie eine Uniform, doch mürbe, ohne Form, ohne die notwendigen Zahlen und Farben.

Er trug sie wie ein Zeichen für die Niederlage, für einen zu Recht verlorenen Krieg.

Er war immerzu ernst, mit aschgrauen Augen, mit strengen Falten um den Mund. Er ging völlig auf in seiner Arbeit, als wäre es das einzige, das ihn am Leben hielt. Wenn er so an seinem Schreibtisch saß, mit gebeugtem Rücken über Primzahlreihen brütete, als wären es die Aufmarschbefehle für eine neue Schlacht, dann versuchte ich, in den Bereich seiner Wahrnehmung zu gelangen für einen kleinen Moment – ich sprach ihn an oder brachte ihm Blumen aus dem Garten als Geschenk. Manchmal bemerkte er das und lächelte mir dann freundlich zu, aber es war doch so, dass sein Blick mich nie wirklich aufnahm. Er glitt immerfort ab von allem, sah durch mich hindurch wie durch einen Wolkenschleier, als lägen dahinter andere, wesentlichere Dinge: Rückzugsräume, Erschießungsbefehle, ein brennender Panzerwagen im Schnee.

Irgendwann in der Vorvergangenheit war er Offizier gewesen, in einer Armee, die Feuer gebracht hatte über die Welt, deren Truppen den ganzen Kontinent unterworfen hatten bis hinunter zu den Grenzgebirgen im Osten. Damals hatte er die Schwingen des Adlers an der Schulter getragen, und er war ihrer würdig: kein großer Held, aber ein guter Soldat. In einem anderen Land wäre man stolz auf ihn gewesen. Aber nicht hier. Nicht für das, was sie getan hatten. Zuviel Vernichtung, Zerstörung ohne Grund - als man sie endlich zurücktrieb, blieb nichts davon als Asche, für eine lange Zeit – ein aschfarbener, zerstückelter Kontinent.

Wir schämten uns.

Dies alles war aber Teil einer fernen Vergangenheit, selbst als ich noch Kind war: Dieser Krieg war lange vor meiner Geburt zu Ende gegangen, und die Grenzen, für die mein Vater gekämpft hatte, waren nur noch Linien in alten Büchern. Die Toten, die ihn allnächtlich heimsuchten, waren längst vergessen - Kriegsopfer, die auf dieser oder jener Seite verbucht und aufgerechnet waren, nur Zahlenreihen auf Gedenktafeln, Sonntagsreden aus einem fremden Jahrhundert.

Ich war ein Nachkömmling, ein Spätling, ich lebte in den Schatten eines Krieges, der für die anderen meiner Generation nur noch Geschichte war, nichts als Bilder und ferne Berichte. Keine Spur davon in unserem Reden, keine Namen, kein Verständnis, kein Bezug zu irgendetwas.

Also wollte ich nicht hören, wenn davon die Rede war, immer dasselbe alte Lied von Notwendigkeit und Untergang: Wie mein Vater zurückgekehrte aus dem Krieg, äußerlich unversehrt, wie er sich und seine Leute gerade noch gerettet hatte auf die richtige Seite der Heimat. Und wie dann die Sieger, denen er sich ergab, ihn prüften und für überwiegend schuldlos befanden. Also ließen sie ihn laufen – und er machte sich auf die Suche nach meiner Mutter, er lief in einem geliehenen Mantel, in zerrissenen Stiefeln quer durch das ganze Land nach Westen. Schließlich fand er sie, nach neun mal sieben Tagen, lebendig und gesund in den Mauern einer gänzlich ausgebrannten Stadt. Da umarmten sie sich und fingen einfach wieder von Vorne an – und so begann alles neu.

Wie konnte ich ihnen glauben, all diesen dunklen Märchen? In meiner Welt gab es keine Brandspuren mehr, nur Leuchtschrift an gläsernen Mauern. Die Stadt war neu und modern, sie pulsierte vor Kraft auf all ihren Plätzen, Massen von Wagen glitten über die Strassen wie Schwärme von glitzernden Fischen.

Die Menschen bewegten sich voll Leichtmut zu den elektrischen Träumen aus Übersee, die Städte wuchsen und wucherten bis zum Mond und darüber hinaus. Selbst die Eltern meiner Freunde hatten es nie anders gekannt. Das Land war schön und leuchtend, und das schon immer, schien es - ein plastikbuntes Gummibärchenparadies für brave Kinder.

Nur meine Eltern glaubten, dass dies alles Lüge war, Trug und schöner Schein - weil die Wirklichkeit in ihrem Grunde aus nichts als Entsetzen gemacht ist. Da war keine Unversehrtheit, keine Unschuld, nie wieder für uns, es gab keine Grenzen und keinen Maßstab, keine Türme und kein Licht, um den Himmel zu halten. Eines Tages, und das sehr bald, würde er auf die Erde fallen und uns alle zermalmen.

Dann würden sie, die kommen sollten, ihre Linien an unserem Himmel ziehen: atomare Rachegeister ohne Gesichter, schön und schrecklicher als tausend Sonnen. Sie würden vollenden, was unser Schicksal sein musste: sie würden uns verbrennen. Vernichten. Verdiente Auslöschung für ein ganzes Volk: nichts anderes war möglich.

Natürlich verbargen meine Eltern ihr schreckliches Wissen nach Kräften vor uns Kindern, bemühten sich, davon zu schweigen, taten so, als gäbe es das alles gar nicht. Aber sie legten doch allezeit Zeugnis davon ab – in ihrem Auffahren ohne Grund, der schwarzen Angst in den Augen meiner Mutter, ihrem atemlosen Erschrecken beim Sirenenheulen zu Mittag.

Doch ich, in der fraglosen Höflichkeit der Kinder, ging auf ihre Täuschung ein. Ihnen zuliebe tat ich so, als wüsste ich von all dem nichts.

Also war ich ganz allein in dieser speziellen Art der Hölle.

Ich war allein im Dunkeln, außerhalb der Zeit, wenn mein Vater aus dem Schlaf heraus schrie wie ein zu Ende getriebenes Tier, und nichts kam und dann die Stimme meiner Mutter, leise und gut dagegen, und ein fester Halt ist unser Gott. Da, in den Wolfsnächten, da konnte ich sie sehen, seine Gespenster. Ich sah die hohlen Gesichter derer, die er sterben ließ, und dann die anderen: riesenmäulige Schimären, die griffen wie aus einem alten zuckenden Schwarzweißfilm nach ihm, sie bissen sich an ihm fest, sie kreischten und dröhnten und befahlen ein ehrloses Töten, immer und immer wieder aufs Neue.

Er hatte ihre Zeichen getragen. Er hatte ihnen gehorcht. Und das ließ ihn nicht los, nicht in vierzig Jahren oder tausend. Er glaubte an Schicksal und Gerechtigkeit, doch niemals an Vergebung. Mochte tagsüber Vergessen möglich sein - nachts musste er zurück, sie packten ihn und stürzten ihn fort, in Gebirge aus Finsternis am Rande der Welt, in Regionen außerhalb der Zeit, da, wo sich der Adler die Leber aus dem eigenen Leib reißt, immer wieder.

In meinem klammen Bett starrte ich dann ins Dunkle und wünschte mir, ich könnte all das Böse in der Welt auf meine Schultern nehmen, aufnehmen und hinwegnehmen, wie das Lamm in den alten Gebeten. Ich wollte an seiner statt dort hinunter steigen, tief ins Innere, in die Hallen und Schächte im Salz, ins Herz, ins Äußerste, das gerade noch ertragbar ist. Dort hinunter wollte ich gehen, nach ganz unten, wo all unsere Träume zu Einem werden, das uns verschlingen will. Wie sehr ich ihm helfen wollte! Denn er war doch mein Vater. Mein Vater, den ich so hilflos liebte.

Da zogen Schlieren seiner Angst durch mein Gehirn – Spiegel eines Abgrunds ohne Ende - ich war nur ein Kind, ein kleines Kind, kein Licht, das leuchten konnte in der Finsternis. Und es gab nichts zu helfen. Nicht für mich. Speziell nicht für mich. Denn ich war ja sein Kind – sein Abkömmling, ich war eine Fortschreibung seiner Schuld bis in alle Zukunft hinein. Die Tatsache meiner bloßen Existenz war untrennbar verbunden mit einer unbüßbaren Schuld. Und daran gab es nichts zu helfen. Keine Linderung, keine Strafe, kein Feuer, darin man brennt und rein wird. Nichts als endlos bleierne Angst ohne Ausweg.

Nur an seltenen lichteren Tagen, da ließen die Gespenster so weit ab von meinem Vater, dass ein kleines Kind in den Raum dazwischen passte - dann drückte ich mich an ihn. – Und er hob mich übermütig hoch, einmal während eines Spaziergangs, über seine Schultern, hielt mich hoch und hielt mir die ganze Welt hin – „Siehst du das Land da“ rief er, während ich vor Vergnügen quietschte und strampelte, „siehst du dein Land, von da oben aus!“

All das Land aus den lachenden Armen des Vaters – die Ebene, weit hingestreckt unter den ziehenden Wolken - die Felder und die Eisenmasten, die Schlote und die Brachen. Mein Blick ging von da aus über die ganze weite Welt, von einem Himmel bis zum nächsten – Wolkentürme am Horizont! Wie der kalte Wind sang!


„Wissen Sie, was hier passiert, wollen Sie das wissen“ flüsterte der Werksführer, mit künstlicher Stimme – kehlkopfloser, hinkender Schwerversehrter, der für keine andere Art von Arbeit mehr taugte. „Das hier ist ein Kraftwerk, hier wird Kraft produziert. Die wenigsten wissen das, keiner will danach fragen, die kennen sich aus in der ganzen weiten Welt, aber vor der eigenen Haustür – da ist es fremder als im fernen Kaukasus, nicht wahr?“

Er fragte es mit einem Zwinkern, lehnte dabei ganz vertraulich den Kopf an meine Schulter.

„Wolkentürme am Horizont“, heulte er mir auf einmal ins Ohr, mit elektronisch verstärkter Stimme, abscheuliche Nachäffung von einem alten Gesang.

„Wollen Sie endlich weitermachen!“ unterbrach ich ihn angewidert.

„Hören Sie das - dieses Summen?“ fragte er da und rückte wieder von mir ab. Tatsächlich lag ein konstantes Summen in der Luft, wie von einem tausendfachen Bienenschwarm.

„Das hier ist ein Kraftwerk.“ wiederholte er, „Hier leben große Kräfte, und sie sind so zahlreich und machtvoll, dass die gesamte Wirklichkeit davon aus dem Brennpunkt gerät. Daher kommt das Summen. Gefährlich. Jeder Schritt hier ist gut zu bedenken. Jedes falsche Wort ist tödlich. Die Alten wussten das noch – von der unerhörten Gefahr im Umgang mit solchen Kräften. Deshalb haben sie auch so oft das Zeichen der Biene an die Stämme und Steine ihrer Tempel geritzt. Wegen diesem Summen. Als Erinnerung an die Gefahr, als Mahnung, sich in Acht zu nehmen.“

Ich sah ihn zweifelnd an. Erläuterungen dieser Art waren nicht unbedingt das, was ich von einem Arbeiter erwartete, der durch eine technische Anlage führt.

„Wer etwas weiß, aber doch nicht zu genau, der wird verletzlich“ fuhr er fort, „Das falsche Opfer, das falsche Wort - das ist in Gegenwart solcher Kräfte viel gefährlicher als ihre völlige Nichtbeachtung. Tödlich. Das liegt in der Natur des Werks – ‚denn alles was entsteht, ist wert, das es zu Grunde geht…’ und so weiter und so fort.“ Er spuckte plötzlich über die linke Schulter nach hinten und sah mich dann feixend an. „Die alten Sprüche, die alten Riten – Sie wissen ja. Aber die Alten hatten wenigstens noch Rituale, gesinterte Erfahrung von Generationen, für Orte wie diesen – was haben Sie?“

Er grinste mich an. Was gab es da für eine Antwort?

„Oh“ sagte ich, und meine Stimme klang flach, verängstigt wie bei einem Kind. „Ich dachte - dieses Summen - das kommt von den Transformatoren.“

Er starrte mich an. Die ganze rechte Seite seines Gesichtes war furchtbar versengt. Brandnarben zogen seinen Mundwinkel nach oben, so dass er beständig zu lächeln schien – ein unangenehmes, hämisches Grinsen war es. Es fehlte ihm auch das linke Auge, fiel mir auf - er trug dafür ein Glasauge, das sich gelegentlich mit einem hörbaren Ticken in der Höhlung bewegte.

„Verstehen Sie mich richtig, “ sagte er nach einer Weile, sehr ruhig. „Das hier ist kein Humbug. Das hier ist die SURT-Schwerindustrie, von der ich rede, und ich meine SCHWERindustrie – verstanden?“

„Ob das klar ist!“ schrie er.

Auch sein gesundes Auge gefiel mir nicht. Es loderte der kalte Glanz des Wahnsinns darin.

„Transformatoren, ja!“ heulte er, „Transformatoren! Da zeig ich Ihnen welche – Richtige! - Transformatoren! - Nun kommen Sie schon!“

Ich wusste nicht, was er vorhatte. Wahrscheinlich etwas Böses – alle Menschen tun Böses, hatte mein Vater mich gelehrt. Ich erwartete nichts anderes.

Dann lief er einfach los, erklärte nichts, sah sich nicht einmal um, ob ich ihm folgen konnte. Sie hatten mir diesen Schutzanzug gegeben – weiß wie Papier – lächerlich aufgezäumt war ich darin, wie ein Lamm in der Osternacht.

Ich hatte vergessen, wie ich überhaupt auf den Plan zu dieser Werksbesichtigung gekommen war. Es war eine ausgesprochen dumme Idee, wurde mir klar, wie etwas, das einem einfällt aus Langeweile und Übermut. Wolkentürme am Horizont. Dass man die Dinge nicht einfach lassen konnte, wie sie waren! Dass man immer die Ursache von allem kennen musste, wissen wollte, was hinter den Dingen liegt - Frechheit und Übermut!

Dabei hatte es ganz harmlos angefangen.

„Ich freue mich über Ihr Interesse und darf Sie im Namen der SURT-Schwerindustrie und unserer Firmenleitung zu dieser Besichtigung recht herzlich begrüßen.“

Ein junger Mann im Geschäftsanzug hatte uns in Empfang genommen, und ich fand es angenehm, dass sich damit die Aufmerksamkeit der Besuchergruppe von mir ab wand. Vorher hatte ich ihre Blicke im Rücken gespürt – ich gehörte nicht zu ihnen, hierher kamen Schulklassen auf Pflichtausflügen, Nichtstuer, Heimattümler, alte Leute, die nichts besseres zu tun hatten – nicht Menschen wie ich. Ich wusste ja selbst nicht, was ich hier suchte – ein wehmütiges Lied, das Singen des Windes, weißes Leuchten am Himmelsrand. Das war alles lächerlich und nutzlos. Mein Vater war seit vielen Jahren tot. So war der Lauf der Dinge.

Der junge Mann begann seinen Vortrag über das Unternehmen und seine Wirtschaftskraft, besang die Spitzenstellung der heimischen Industrie am Weltmarkt, die beispiellose Perfektion ihrer Produkte und so weiter und so fort, und das alles überaus umständlich und ermüdend detailreich. Seine Stimme kam und ging wie in Wellen, ich konnte mich nicht konzentrieren, versank in einer Art Halbschlaf, wobei ich mich bemühte, zu begreifen, was die SURT-Schwerindustrie denn nun eigentlich herstellte. Doch es wollte mir beim besten Willen nicht gelingen.

Ich hatte bis dahin immer fraglos angenommen, dass sie hier Waffen entwickelten – Pulver in kleinen Phiolen, mit dem man ganze Völker auslöschen konnte, schnell und schmerzlos, ohne Aufsehen, eher beiläufig. Aber das stimmte offenbar nicht, oder sie gaben es auf jeden Fall nicht zu. Aber was sie nun produzierten – immer wenn ich dachte, ich hätte es erfasst, entglitt es mir wieder in endlose Reihen von Statistiken und Gewinnermittlungen. Es hatte wohl etwas mit Chemie zu tun, aber auch mit Metallurgie und Energieerzeugung, mit Biotechnik, „biologischer Pyrotechnik“, was immer das sein mochte, möglicherweise auch mit Recycling, was sie hier „Arbeit am Verdorbenen“ nannten – überhaupt war der ganze Vortrag eine merkwürdige Mischung aus Ingenieursjargon und gestelzten, altmodischen Wendungen, die kein Mensch mehr benutzte.

Der Redner untermalte seine Ausführungen mit eckigen Zeichen, die er auf eine Leinwand projizierte – sie wirkten wie Zahlen oder mathematische Symbole, was sie aber nicht waren – sie waren irgendwie anders – machtvoller – sie bewegten sich in einer Art von kaltem Eigenleben vor dem Auge, zuckten wie Insekten im Nachtlicht. Es ging eine eigenartige Faszination davon aus, man konnte sich gar nicht mehr abwenden. Irgendetwas wird da verändert, dachte ich alarmiert - tief in meinem eigenen Verstand wurde es verändert – auf so grundlegende Art, dass es keine Worte dazu brauchte, schien mir. – Aber dann, ich wusste doch genau, dass dieser ganze Vortrag ausgesprochen seltsam war, dubios, um nicht zu sagen, völliger Unsinn. Sicher, sie waren eine Weltfirma, aber waren sie deshalb gleich „der ewige Mittelpunkt der Weltenachse“?

Und so ging das in einem fort, der Vortrag hatte mittlerweile jeden logischen Zusammenhang verloren, der Redner schwafelte etwas von der „Lichtgeburt des heiligen Elektrons“, das war wirklich hanebüchener Quatsch, kein Sinn, da noch zuzuhören. Mein Kopf tat weh und mein Körper wurde schwer und dumpf, wie ein Sack aus Blei, wie gefangen in dem säuerlichen Geruch nach Chemikalien, der in dem Vortragssaal hing. Ein Geruch wie in einem abgesonderten Labor, da, wo sie seit hundert Jahren die gleichen Experimente machen, immer wieder aufs Neue, obwohl nie etwas daraus werden kann, nichts Gutes auf jeden Fall.

Es war eine große Abscheulichkeit, dass ich hier war, begriff ich auf einmal, und ich sollte sehen, dass ich mich davon machte. Aber es war nicht mehr möglich, all das hier hatte längst ein Eigenleben entwickelt, wie die Zeichen auf der Leinwand vor mir.

Als der Vortrag endlich vorbei war und sich ein Rundgang durch die Fabrik anschließen sollte, wurde der Rest unserer Gruppe an einer Art von Kontrollposten aufgehalten und umständlich kontrolliert – mich schien man absichtlich zu übersehen, sie winkten mich durch – das alles wirkte wie Teil eines Plans, dessen Sinn mir nicht klar werden wollte. Kurze Zeit später traf ich auf den Werksführer, der mich ohne weiteres mitnahm und durch ein Stahltor nach draußen führte.

Ich sah mich um – ein behaglicher Platz war das nicht gerade. Es wirkte alles streng und aufgeräumt, aber in dem Ecken stapelte sich der Abfall meterhoch. Die Mauern des Gebäudes waren mit düsteren Graffitis überzogen wie mit Schmauchspuren. Hagehoch ragten diese Wände vor mir auf, bis in die Wolken, schien es, wo es strahlend leuchtete - Stahlträger und Strukturen wie Bäume und Flüsse, ein ineinander gewobener, eisig grauer Wald von Eisen.

Der Führer hatte mich mit einem Kratzfuß begrüßt.

„Guten Tag, mein Name ist Micha Leuwen, und was kann ich für Sie tun?“ Dabei lachte er hämisch. Wie einer, der etwas verbrennt, wenn er lacht - sein Gesicht wurde ganz eckig davon. Ich fröstelte.

Scheinbar lag der größte Teil der Fabrik unter der Erde. Sie war wirklich riesig - man konnte kaum erkennen, ob sie überhaupt irgendwo aufhörte, so gewaltig waren ihre Hallen schon im Oberirdischen – groß wie eine ganz Stadt schien sie mir, eine riesige chemische Stadt.

Nicht weit von einer Mauer wuchs ein Dornbusch aus dem fest gestampften Boden. Als ich näher herantrat, sah ich, dass es ein Rosenstock war, und er blühte – doch mit Blüten und Knospen, die ganz ohne Farbe waren, nur schwarz und hellgrau wie Asche.

„Zu diesem Rosenstock“ sagte mein Führer, nun wieder ganz jovial und freundlich, „gibt es eine alte Geschichte. Angeblich steht diese Rose hier schon immer. Niemand weiß, wie alt dieser Busch wirklich ist, oder wer ihn gepflanzt hat. Es mag sogar noch vor dem Bau der Fabrik gewesen sein, wer kann das wissen. Vor etlichen Jahren gab es hier ein furchtbares Unglück, als durch einen veralteten Schaltplan die Feuer aus der Kontrolle gerieten – fast die gesamte Fabrik ist damals abgebrannt und der Rosenstock dazu. Aber seine Wurzeln haben im Boden überlebt: nach kurzer Zeit schlug er wieder aus und begann erneut zu wachsen.“

Ich trat noch näher heran und bemerkte, dass die Rosenblüten gar nicht wirklich schwarz und grau waren. Die schwarzen waren eher von einem allerdunkelsten Rot –so rot wie der Granatstein, den meine Mutter immer am Hals getragen hatte. Und die scheinbar grauen Rosen schimmerten in Wirklichkeit in allen Farben, wie geschliffenes Kristall – jede Blüte wie ein holografisches Bild - eine Datenmatrix – ohne zu überlegen, was ich tat, brach ich zwei Rosenzweige ab und nahm sie mit mir.

Der Führer wartete schon und machte mit den Händen wirre Gesten, die wohl zur Eile drängen sollten. Er betätigte einen Mechanismus und unter einer Rasenfläche öffneten sich plötzlich Tore ins Finstere, wo es elektrisch aufblitzte. Ich überlegte, ob ich die Besichtigung nicht doch lieber abbrechen sollte – aber für solche Entscheidungen war es lange schon zu spät, und ich stolperte meinem Führer hinterher, hinein in ein labyrinthisches Gewirr von Gängen, das taub und aromatisch roch.

Der Geruch biss mir in die Kehle und brannte in den Augen, Tränen liefen mir übers Gesicht und ich konnte kaum noch atmen. Da stürzte ich über die Falten meines Anzugs und fiel schmerzhaft aufs Knie – er drehte sich kaum um: „Kommen Sie! Beeilung! Hier bleibt man nicht lange!“

Ich stand mühsam auf und hasste meine Tränen, er dachte wohl, ich weinte über diese kleine Verletzung. Er betrachtete mich kühl, neigte den Kopf – genau wie mein Vater, fiel mir ein, wenn er seine Kinder vorbereiten wollte auf die Art und Weise der Welt. Dann ließ er uns dürsten und behielt alles Wasser für sich, trank den letzten Tropfen, wenn er ihn bekam. Er führte uns in ein Dickicht, ließ uns allein, und zählte die Minuten, bis wir wieder herausfanden. Er streckte die Hand aus, wenn wir fielen, und nahm sie im letzten Moment wieder fort – und wenn wir hinstürzten und uns verletzten, dann betrachtete er uns so, kühl, abwägend. Es war seine Lektion, eine schwierige, schmerzende Lektion - dass die Welt böse ist. Dass es keinen Halt gibt, nirgendwo. Das sollten wir möglichst früh begreifen, damit wir vorbereitet waren, nicht zerbrechen konnten an der Welt, so wie er selbst zerbrochen war.

Ich richtete mich auf und klopfte meine Kleidung aus. Mein Vater war mein Vater – er hatte vielleicht ein Recht gehabt zu solchen Dingen – nicht aber der da vor mir, dieser erbärmliche Krüppel, dieser kleine graue Mann.

„Machen Sie nur weiter, Herr Leuwen“ sagte ich und lächelte ihm zu. Ich hatte da diese spezielle Lächeln zur Verfügung, eine Art von Lächeln, das die Leute vor mir erstarren ließ. Sie wurden alle kleinlaut, ohne dass ich etwas dazu sagen musste – ich wusste nicht, woher ich das hatte und es war auch keine Eigenschaft, auf die ich besonders stolz war, aber es war im Alltag nützlich, manchmal. Hier hatte es allerdings keine Wirkung, der Herr Leuwen trieb es nur noch toller, tanzte vor mir herum und machte sein Narrenspiel dazu. Wir gingen weiter – tiefer herunter.

Das Summen wurde hier - eindrücklicher, dachte ich, wobei es sich gleichzeitig in unzählige Einzelgeräusche auflöste, die aber alle für sich sehr leise blieben. Die Technik des biologischen Feuers war offenbar auch im Maßstab der Großindustrie eine überaus stille Kraft. Tatsächlich herrschte hier völlige Ruhe, aber es war eine machtvolle, vibrierende Ruhe, eine Stille, die sich aus unzähligen kleinen Geräuschen zusammensetzte, wie im Innern eines Waldes. All die vielfältigen Prozesse der Umwandlung von Substanzen und Kräften geschahen fast lautlos, doch beständig wie in einer Muskelkette, lebten von demselben Feuer, das in jedem Tropfen unseres Blutes brennt und wirkt und uns hervorbringt. In diesem Wald von Eisen flüsterte und summte es, tickte in Kästen wie von Würmern, gurgelte in Bottichen wie in Därmen, zischte wie aus Mündern, sang in einer wortlosen Sprache - so zart wie der Gesang eines Vogels, und doch so machtvoll wie Gezeiten und Monde.

Riesige Maschinen arbeiteten um uns her, mit unerklärlichen Funktionen – ihre Hüllen schmatzten in saftigem Metall, verkettet und verkabelt ins Nachtdunkle, da, wo es sich wie Schneckenmörser drehte - Flügelsdrift von kleinen Teilchen an meinem Gesicht, wie Samen für eine neue Natur.

Wir stiegen eine Leiter herab an einer metallisch riechenden Wand, wo es leise pochte wie von tausend Herzen. Stützpfeiler glitten wie Hände nach oben ins Dunkle - eine Haut aus Stahl weinte schwarze Tränen – da öffnete sich ein jäher Schlund vor uns, spitzwinklig in die Wand gefräst, dort stand einer mit einem Nachtsichtgerät vor dem Gesicht und las Skalen ab. Blaues Flackern auf seinem konzentrierten Gesicht - er sah zu uns herüber und hob grüßend die Hand, als er den Werksführer erkannte, beugte sich dann zurück in seine Arbeit. Da war ein Licht aus der Tiefe, das wuchs und sich entfaltete, das zuckte über seine Gestalt hin, das verzerrte seinen Schatten ins Riesenhafte und verschmolz ihn mit den Maschinen und Gerüsten um ihn her zu einer neuen, unerhörten Verbindung von Mensch und Menschenwerk.

„Wo geht es denn hin?“ wagte ich meinen Führer zu fragen, und musste schreien, um die Stille zu übertönen.

„Zum Feuer natürlich“ knurrte er, und wir stiegen tiefer – über hallende Treppen, Stege, die zuckten unter der Berührung - die Wände um uns her hatten Schuppen und glänzten wie im Fieber, grau und brennend, je tiefer wir kamen. Das Licht von unten wurde lauter, brüllte und kochte, schoß in jähen Ausbrüchen von Strahlung nach oben wie eine umgekehrte Sonne.

Schließlich kamen wir zwischen zwei turmhoch augenlosen Maschinen heraus, da heulte und toste es vor uns in den Brennkammern - ein riesiges Feuer! Ein unglaubliches, weltengroßes Feuer, das lag im Herzen dieser Fabrik! Heißer als die Sonne war es, blendend und schrecklich wie der Zorn Gottes, es fauchte und tobte und brannte, schrie wie ein Biest und warf sich gegen die Wände seines Gehäuses, es wollte fressen und fressen und zehren und brennen - wollte zerstören, zerstücken und vernichten, bis nichts mehr war als Feuer und Nichts.

Was sollte das bloß werden – ich, hier, allein mit einem verrückten Führer, und niemand, der mich vor der Gewalt dieses Feuers bewahren konnte!

Da sah ich die Arbeiter, wie sie sich im Feuer bewegten: lauter Leute in Panzern. Wie Astronauten waren sie eingeklemmt zwischen ihren Gerätschaften, sogar die Gesichter hinter meterdicken Schutzschichten, ganz eingesargt waren sie, damit sie nicht vergingen, nicht zu Kohlefäden verglühen mussten im tiefen Herz des Feuers.

Beim Schichtwechsel tauchten sie an die Oberfläche – lächerlich wenige waren es auf einmal: Dort im Feuer waren sie mir doch viel zahlreicher erschienen, machtvollere Wesen auch als diese unscheinbaren Gestalten, die im Pausenraum saßen, unzählige Liter Wasser tranken und sich über Fußballergebnisse unterhielten. Ihre Körper waren ausgedörrt, mußten es sein bei dieser Arbeit, ihre Gesichter waren hell wie Fackeln im Licht der Brennkammern, scharf vor Anspannung, die Augen wie Messer im Zeittakt.

„Wieso müssen Menschen das machen?“ fragte ich meinen Führer, „Wieso gehen sie ins Feuer? Immer wieder? Wieso lässt man sie nicht damit aufhören? Warum hat man keine Maschinen dafür, wie für alles andere auch?“

Er sah mich alarmiert an.

„Da ist doch gar keiner!“ ereiferte er sich. „Niemand ist im Feuer!“

„Aber doch! Sehen Sie hin!“

Er wandte den Blick ab.

„Nein! Ich sehe nichts! Ich weiß von nichts!“

Er wirkte so klein, wie er sich da vor mir wand. So erbarmungswürdig. So blind. Da beugte ich mich herunter und nahm ihn in meine Arme.

„Ich bin nichts - nichts von Bedeutung – und ich weiß auch von nichts.“ jammerte er. Ich hielt ihn in meinen Armen, ganz fest.

„Niemand weiß etwas.“ sagte ich. Es war eine Lüge, man sah es ja allezeit um uns her, überall – das Feuer – aber er musste es nicht länger tragen. Er war nur ein müder alter Mann. Wieder musste ich weinen, aber diesmal schämte ich mich meiner Tränen nicht – und als sie auf ihn fielen, dunkle Tropfen, da wurde er auf einmal immer kleiner in meinen Armen, verschwand, löste sich auf und verging wie ein Schwaden aus Rauch – da war nichts mehr, er war ja nichts, nur ein Phantom, der Schatten eines Schattens im Pulsieren dieser großen Fabrik.

Als ich näher an sie herantrat, lächelten die Arbeiter mir harmlos zu. Der Vorarbeiter zeigte mir bereitwillig das Zeichen des Phönix, das sie alle als Emblem auf der Schulter trugen, und dazu ihren Wahlspruch: „Eines ist das Alles“. Sie ließen mich sogar einen ihrer Anzüge anprobieren, und wir lachten, weil es so gar nicht passen wollte. Sie hatten, wie sie sagten, ein eigenes Zunftlied, einen Gesang, der das Feuer vor ihnen bändigte und band – aber wie der ging, das wollten sie mir nicht sagen, nur die erste Zeile: „Wir suchen dein Angesicht mit Furcht...“ Sie schienen das ein bißchen lächerlich zu finden, wie einen Aberglauben aus Kindertagen, dem man aus Gewohnheit anhängt, ohne lange darüber nachzudenken.

Sie waren selbstbewusste und freundliche Leute, und es war nichts weiter Besonderes an ihnen. Sie machten nur ihre Arbeit, und sie machten sie gut. Aber ich wusste: wenn diese da einmal nicht mehr wären, wenn sie nicht mehr im wütenden Blick des Feuers wären – dann würde es wieder hervorkommen und herausbrechen, dann würde es das Land verzehren, mein Land, mich -

Ein brennender Feuerstrudel - wie konnte das die Wurzel meiner Welt sein! Wie konnte das die Quelle sein für all die Macht und die Schönheit meines elektrischen Landes!

Es war schrecklich, aber dann – es war auch schön, das Feuer – erhaben, geheimnisvoll und schön. Ich bewunderte seine Macht und seine Schönheit - und ich schämte mich dafür, denn es war doch nichts als reine Bosheit, dieses Feuer.

Eine Arbeiterin lächelte mir zu. Sie war wunderschön – eine große Frau mit dunklen Augen, die Funken sprühte, wenn sie lachte. Ich lehnte mich an sie.

„Die ist das erste Feuer“ erklärte sie mir, und hielt mich an den Schultern. „Die Alten nannten dieses Feuer Wuod – die Wut. Heute benutzen sie dafür andere Namen.“ Sie lächelte wie über einen Scherz. „Doch ganz gleich, wie du es nennst, es ist vor allem eine große Kraft, und von vornherein weder böse noch gut. Sie kann zerstören und verbrennen, aber sie bringt auch das Neue hervor – alles Neuartige, alles Unvorhersehbare in der Welt. Du kannst es nicht leugnen. Das ist nicht möglich. Es ist nun einmal da, in dir. Es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Das liegt bei jedem selbst. Ein jeder muss wissen, was er tut.“

Keine andere Antwort. Jeder muss wissen, was er tut.

Sie musste zurück an die Arbeit: zurück ins Feuer. Es schien mir das Herz abzuschnüren, als ich sie so gehen sah, und ich wollte, dass sie etwas von mir mitnähme, ins Feuer hinein. Da erinnerte ich mich die Rosenzweige, die ich gepflückt hatte, die mit den dunkelstroten Blüten daran und den hellgrauen, die in allen Farben schimmerten. Ich hatte sie die ganze Zeit in den Händen gehalten. Ich gab sie ihr zum Abschied, und sie nahm sie dankend an.

Ich wusste, dass alles, was sie gesagt hatte, reine Wahrheit war: mit Verantwortung genährt, ist dieses Feuer die Mutter aller Wunder. Man kann es nur nicht leugnen, man darf es nicht vergessen, man muss hineingehen, als ganzer Mensch - und so auch wieder heraus, als ganzer Mensch, immer wieder aufs Neue, darf niemals selbst zu Feuer werden, auch wenn es noch so brennt.

Keine weitere Antwort, nur erstickende Hitze, als ich meinen Weg unter dem Herzen des Feuers fortsetzte. Ich klopfte gegen die Wand des Behälters – es klang hohl und trocken, wie bei einem Tongefäß – aber es war auch weiß glühend heiß, und ich trug Brandnarben davon, auf den Händen und auf der Brust und auch mitten auf der Stirn. Wie gezeichnet war ich von einer geheimen Schuld - als gäbe es Dinge, die so machtvoll sind, dass man an ihnen schuldig wird, allein in dem man um sie weiß.

Ich lief durch völlige Finsternis und konnte doch sehen, denn ich war mir mein eigenes Leuchten: ich spürte, wie das Licht durch meine Haut brach, ich spürte das Feuer in all meinen Adern, die brennende Schrift meiner eigenen Sprache!

Schließlich erreichte ich die oberirdischen Bereiche des Werks. Ich hastete zum Ausgang, lief durch klimatisierte Flure, vorbei an ganz normalen, neuzeitlichen Arbeitsplätzen, Großraumbüros und Computerbildschirmen. Hier kannte ich mich aus, so sollte es sein, das war die Arbeit, die jeder hatte.

Die Leute starrten mir hinterher, voller Misstrauen, so als trüge ich einen unnennbaren Makel auf mir. Hier schien es so, als gäbe es das alles nicht -

Niemand, der täglich zu Kohle verglüht, niemand, der uns die Zeit vorgibt, der den Puls unserer Herzen schlägt, im Takt dieser Schmieden.

Endlich gelangte ich hinaus. Es war ungeheuer hell da draußen. Alle Welt – die Alleen der Bäume, die Vogelschwärme, die Städte, die Kanten, die Wege, die Wiesen, der Fluss und die Wolken - alles Fließende, Fliegende, Gleitende, Bleibende – all die Welt war hell erleuchtet.

In diese Helligkeit hinein begann ich nun zu singen, wie ein Versuch, leise, schüchtern erst, mein Lied, probeweise und für wenige Takte – aber es war doch mein Lied. Mein eigenes Lied.

Ich ging ins Weite und sang mein Lied dazu – ein merkwürdiges Stückchen Musik war das, voll fremder Klänge und ohne erkennbaren Rhythmus. Man konnte nicht gut dazu marschieren. Aber das wollte ich ja gar nicht. Nur gehen, leben, singen, sehen, die Welt entdecken ohne Angst.

Die Welten überall, und dann darüber hinaus.

Denn der Himmel ist die Grenze nicht.

Es gibt keine Grenzen. Nirgends.

So ging ich also fort und riss mich los aus den Armen der chemischen Stadt.


Ich ging fort und hinter mir die Stadt –

die ganze Stadt begann zu singen.


©  Barbara Beyß

Home ] Nach oben ]