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~ Die Prosa-Edda Online ~
  In der Übersetzung von Karl Simrock

        Gylfaginning - Gylfis Visionen

1. König Gylfi beherrschte das Land, das nun Swithiod (Schweden) heißt. Von ihm wird gesagt, daß er einer fahrenden Frau zum Lohn der Ergötzung durch ihren Gesang ein Pflugland in seinem Reich gab, so groß als vier Ochsen pflügen könnten Tag und Nacht. Aber diese Frau war vom Asengeschlecht; ihr Name war Gefion. Sie nahm aus Jötunheim vier Ochsen, die sie mit einem Jötunen erzeugt hatte, und spannte sie vor den Pflug. Da ging der Pflug so mächtig und tief, daß sich das Land löste, und die Ochsen es westwärts ins Meer zogen, bis sie in einem Sund still stehen blieben. Da setzte Gefion das Land dahin, gab ihm Namen und nannte es Seelund (Seeland). Und da, wo das Land weggenommen worden war, entstand ein See, den man in Schweden nun Löger (Mälar) heißt. Und im Löger liegen die Buchten so wie die Vorgebirge in Seeland. So sagt Bragi der alte:

Gefion nahm von Gylfi fröhlich, dem goldreichen,
Die rennenden Rinder rauchten, den Zuwachs Dänemarks.
Vier Häupter, acht Augen hatten die Ochsen,
Die das Erdstück schleppten zu dem schönen Eiland.
 

2. König Gylfi war ein weiser Mann und zauberkundig. Er wunderte sich sehr, daß der Asen Volk so vielkundig sei, daß alles nach ihrem Willen ginge. Er dachte nach, ob dies von ihrer eigenen Kraft geschehen könne, oder ob da die Macht der Götter walte, welchen sie opferten. Er unternahm eine Reise nach Asgard, fuhr aber heimlich, indem er die Gestalt eines alten Mannes annahm und so sich hehlte. Aber die Weisheit der Asen, die in die Zukunft blicken, überwog und da sie um seine Fahrt wußten bevor er kam, empfingen sie ihn mit einem Blendwerk. Als er in die Burg kam, sah er eine hohe Halle, daß er kaum darüber wegsehen vermochte. Das Dach war mit goldenen Schildern belegt wie mit Schindeln. So sagt Thiodolf von Hwin, daß Walhall mit Schilden gedeckt sei:

Das Dach deckten denkende Künstler,
Steinschilde schimmerten über dem Saale Odins.

Am Tor der Halle sah Gylfi einen Mann, der mit Messern spielte, so daß sieben zugleich in der Luft waren. Dieser fragte ihn nach seinem Namen. Er nannte sich Gangleri und sagte, er komme aus unwegsamer Ferne und bitte um Nachtherberge; auch fragte er, wem die Halle gehöre. Jener antwortete, sie gehöre ihrem König: "Ich will dich zu ihm begleiten: da magst du ihn selbst um seinen Namen fragen. Alsbald ging der Mann ihm voraus in die Halle: er folgte ihm nach und dicht hinter seinen Fersen schlug die Türe zu. Da sah er viele Gemächer und eine Menge Volk: einige spielten, einige zechten, andere übten sich in den Waffen. Er sah sich um, und vieles von dem was er sah, schien ihn unglaublich. Da sprach er:

Ehe du eingehst des Ausgangs halber
Stelle dich sicher.
Du weißt nicht gewiß, ob Widersacher
Nicht im Hause halten.

Er sah drei Hochsitze, einen über dem andern, und auf jedem saß ein Mann. Er fragte, wie die Namen dieser Häuptlinge wären. Sein Führer antwortete: der in dem untersten Hochsitz sitze, sei ein König und heiße Har (der Hohe); der im nächsten heiße Jafnhar (der Ebenhohe), und der im obersten heiße Thridi (der Dritte). Da fragte Har den Ankömmling, was er zu werben komme, und fügte hinzu, Essen und Trinken stehe für ihn bereit wie für alle in Hars Halle. Er sagte aber, zuvor wolle er fragen, ob es da wohl einen weisen Mann gebe. Har sagte, er komme nicht heil heraus, wenn er nicht weiser sei.

"Steh du, indem du fragst;
Der Antwort sagt, soll sitzen."
 

3. Da hub Gangleri an zu sprechen: Wer ist der höchste und älteste aller Götter? Har sagte: Allvater heißt er in unserer Sprache und im alten Asgard hatte er zwölf Namen. Der erste ist Allvater, der andere Herran oder Herian, der dritte Nikar oder Hnikar, der vierte ist Nikuz oder Hnikud, der fünfte Fiölnir, der sechste Oski, der siebente Omi, der achte Biflidi oder Biflindi, der neunte Swidur, der zehnte Swidrir, der elfte Widrir, der zwölfte Jalg. Da fragte Gangleri: Wo ist dieser Gott, und was vermag er? Oder was hat er Großes getan? Har sagte: Er lebt durch alle Zeitalter und beherrscht sein ganzes Reich und waltet aller Dinge, großer und kleiner. Da sprach Jafnhar: Er schuf Himmel und Erde und die Luft und alles, was darin ist. Da sprach Thridi: Das ist das wichtigste, daß er den Menschen schuf und gab ihm den Geist, der leben soll und nie vergehen, wenn auch der Leib in der Erde fault oder zu Asche verbrannt wird. Auch sollen alle Menschen leben, die wohlgesittet sind, und mit ihm sein an dem Orte, der Gimle heißt oder Wingolf. Aber böse Menschen fahren zu Hel und danach gen Niflheim; das ist unten in der neunten Welt. Da fragte Gangleri: Was tat er, bevor Himmel und Erde geschaffen waren? Har antwortete: Da war er bei den Hrimthursen (Frostriesen).


4. Gangleri fragte: Wie ward die Welt, wie entstand sie, und was war zuvor? Har antwortete: So heißt es in der Wöluspa:

Einst war das Alter, da alles nicht war,
Nicht Sand noch See noch salzge Wellen,
Nicht Erde fand sich noch Überhimmel,
Gähnender Abgrund und Gras nirgend.

Da sprach Jafnhar: Manches Zeitalter vor der Erde Schöpfung war Niflheim entstanden; in dessen Mitte liegt der Brunnen, Hwergelmir genannt. Daraus entspringen die Flüsse mit Namen Swöl, Gunnthra, Fiorm, Fimbul, Thul, Slid und Hrid, Sylg und Ylg, Wid, Leiptr; Giöll ist der nächste beim Höllentor. Da sprach Thridi: Vorher aber war im Süden eine Welt, Muspel geheißen: die ist hell und heiß, so daß sie flammt und brennt und allen unzugänglich ist, die da nicht heimisch sind und keine Wohnung da haben. Surtur ist er geheißen, der an der Grenze des Landes sitzt und es beschützt: er hat ein flammendes Schwert und am Ende der Welt wird er kommen und heeren und alle Götter besiegen und die ganze Welt in Flammen verbrennen. So heißt es in der Wöluspa:

Surt fährt von Süden mit flammendem Schwert,
Von seiner Klinge scheint die Sonne der Götter.
Steinberge stürzen, Riesinnen straucheln,
Zu Hel fahren Helden, der Himmel klafft.
 

5. Gangleri fragte: Was begab sich, bevor die Geschlechter wurden und Menschenvolk sich ausbreitete? Har antwortete: Als die Fluten, welche Eliwagar heißen, soweit von ihrem Ursprung kamen, daß der Giftstrom in ihnen erstarrte wie der Sinter, der aus dem Feuer fällt, ward er in Eis verwandelt. Und da dies Eis stille stand und stockte, da fiel der Dunst darüber, der von dem Gifte kam und gefror zu Eis, und so legte eine Eislage sich über die andere bis in Ginnungagap. Da sprach Jafnhar: Die Seite von Ginnungagap, welche nach Norden gerichtet ist, füllte sich an mit einem schweren Haufen Eis und Schnee und darin herrschte Sturm und Ungewitter; aber der südliche Teil von Ginnungagap war milde von den Feuerfunken, die aus Muspelheim herüberflogen. Da sprach Thridi: So wie die Kälte von Niflheim kam und alles Ungestüm, so war die Seite, die nach Muspelheim sah, warm und licht, und Ginnungagap dort so lau wie windlose Luft, und als die Glut auch dem Reif begegnete also daß er schmolz und sich in Tropfen auflöste, da erhielten die Tropfen Leben durch die Kraft dessen, der die Hitze sandte. Da entstand ein Menschengebild, das Ymir genannt ward; aber die Hrimthursen (Frostriesen) nennen ihn Örgelmir, und von ihm kommt das Geschlecht der Hrimthursen, wie es in der kleinen Wöluspa heißt:

Von Widolf stammen die Walen alle,
Alle Zauberer sind Wilmeidis Erzeugte,
Die Sudkünstler stammen von Swarthöfdi,
Aber von Ymir alle die Riesen.
Und der Riese Wafthrudnir sagt auf die Frage:
Woher Örgelmir kam den Kindern der Riesen
Zuerst, der allwissende Jote?
Als Antwort:
Aus den Eliwagar fuhren Eitertropfen
Und wuchsen bis ein Riese ward.
Unsre Geschlechter kamen alle daher:
Drum sind sie unhold immer.

Da fragte Gangleri: Wie wurden die Geschlechter von ihm ausgebreitet? Oder wie geschah's, daß mehr geschaffen wurden? Oder hältst du ihn für einen Gott, von dem du gesprochen hast? Da antwortete Har: Wir halten ihn mitnichten für einen Gott: er war böse wie alle von seinem Geschlecht, die wir Hrimthursen nennen. Es wird erzählt, als er schlief, fing er an zu schwitzen: da wuchs ihm unter seinem linken Arm Mann und Weib und sein einer Fuß zeugte einen Sohn mit dem anderen. Und von diesen kommt das Geschlecht der Hrimthursen; den alten Hrimthurs aber nennen wir Ymir.


6. Da fragte Gangleri: Wo wohnte Ymir? Oder wovon lebte er? Har antwortete: Als das Eis auftaute und schmolz, entstand die Kuh, die Audhumla hieß, und vier Milchströme rannen aus ihrem Euter; davon ernährte sich Ymir. Da fragte Gangleri: Wovon nährte die Kuh sich? Har antwortete: Sie beleckte die Eisblöcke, die salzig waren, und den ersten Tag, da sie die Steine beleckte, kam aus den Steinen am Abend Menschenhaar hervor, den andern Tag eines Mannes Haupt, den dritten Tag war es ein ganzer Mann, der hieß Buri. Er war schön von Angesicht, groß und stark und gewann einen Sohn, der Bo r hieß. Der vermählte sich mit Bestla, der Tochter des Riesen Bölthorn; da gewannen sie drei Söhne: der eine hieß Odin, der andere Wili, der dritte We. Und das ist mein Glaube, daß dieser Odin und seine Brüder Himmel und Erde beherrschen.


7. Da fragte Gangleri: Wie vertrugen sich diese mit Ymir, und welcher war der Stärkere? Har antwortete: Börs Söhne töteten den Riesen Ymir, und als er fiel, da lief so viel Blut aus seinen Wunden, daß sie darin das ganze Geschlecht der Hrimthursen ertränkten bis auf einen, der mit den Seinen davon kam: den nennen die Riesen Bergelmir. Er bestieg mit seinem Weib ein Boot (Wiege) und rettete sich so, und von ihm kommt das (neue) Hrimthursengeschlecht, wie hier gesagt ist:

Im Anfang der Zeiten vor der Erde Schöpfung
Ward Bergelmir geboren.
Des gedenk ich zuerst, daß der altkluge Riese
Im Boot geborgen ward.


8. Da fragte Gangleri: Was richteten die Söhne Börs aus, daß du sie für Götter hältst? Har antwortete: Davon ist nicht wenig zu sagen. Sie nahmen Ymir und warfen ihn mitten in Ginnungagap und bildeten aus ihm die Welt: aus seinem Blut Meer und Wasser; aus seinem Fleisch die Erde; aus seinen Knochen die Berge, und die Steine aus seinen Zähnen, Kinnbacken und zerbrochenem Gebein. Da sprach Jafnhar: Aus dem Blut, das aus seinen Wunden geflossen war, machten sie das Weltmeer, festigten die Erde darin und legten es im Kreis um sie her, also daß es die meisten unmöglich dünken mag, hinüber zu kommen. Da sprach Thridi: Sie nahmen auch seinen Hirnschädel und bildeten den Himmel daraus, und erhoben ihn über die Erde mit vier Ecken oder Hörnern, und unter jedes Horn setzten sie einen Zwerg; die heißen Austri, Westri, Nordri, Sudri. Dann nahmen sie die Feuerfunken, die von Muspelheim ausgeworfen umherflogen, und setzten sie an den Himmel, oben sowohl als unten, um Himmel und Erde zu erhellen. Sie gaben auch allen Lichtern ihre Stelle, einigen am Himmel, andere lose unter dem Himmel und setzten einem jeden seinen bestimmten Gang fest, wonach Tage und Jahre berechnet werden. So wird in alten Sagen erzählt und so heißt es in der Wöluspa:

Die Sonne wußte nicht wo sie Sitz hätte,
Der Mond wußte nicht was er Macht hätte,
Die Sterne wußten nicht wo sie Stätte hatten.

Da sagte Gangleri: Das sind merkwürdige Dinge, die ich da höre; ein großes Gebäude ist das und sehr künstlich gebildet. Wie war die Erde beschaffen? Har antwortete: Sie ist außen kreisrund und rings umher liegt das tiefe Weltmeer. Und längs den Seeküsten jenseits gaben sie den Riesengeschlechtern Wohnplätze, und nach innen rund um die Erde machten sie eine Burg wider die Anfälle der Riesen, und zu dieser Burg verwendeten sie die Augenbrauen Ymirs des Riesen und nannten die Burg Midgard. Sie nahmen auch sein Gehirn und warfen es in die Luft und machten die Wolken daraus, wie hier gesagt ist:

Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen,
Aus dem Schweiße die See,
Aus dem Gebein die Berge, die Bäume aus dem Haar,
Aus der Hirnschale der Himmel.
Aus den Augenbrauen schufen gütge Asen
Midgard den Menschensöhnen;
Aber aus seinem Hirn sind alle hartgemuten
Wolken erschaffen worden.


9. Da sprach Gangleri: Großes dünken sie mich vollbracht zu haben, da sie Himmel und Erde geschaffen, die Sonne und das Gestirn geordnet, und Tag und Nacht geschieden hatten; aber woher kamen die Menschen, welche die Erde bewohnen? Har antwortete: Als Börs Söhne am Seestrand gingen, fanden sie zwei Bäume. Sie nahmen die Bäume und schufen Menschen daraus. Der erste gab Geist und Leben, der andere Verstand und Bewegung, der dritte Antlitz, Sprache, Gehör und Gesicht. Sie gaben ihnen auch Kleider und Namen: den Mann nannten sie Ask und die Frau Embla, und von ihnen kommt das Menschengeschlecht, welchem Midgard zur Wohnung verliehen ward. Danach bauten sie sich eine Burg mitten in der Welt und nannten sie Asgard. Da wohnten die Götter und ihr Geschlecht und manches trug sich da zu, davon erzählt wird auf Erden und in den Lüften. In der Burg ist ein Ort, der Hlidskialf heißt, und wenn Odin sich da auf den Hochsitz setzt, so übersieht er alle Welten und aller Menschen Tun und weiß alle Dinge, die da geschehen.

Seine Hausfrau heißt Frigg, Fiörgwins Tochter, und von ihrem Geschlecht ist der Stamm entsprungen, den wir das Asengeschlecht nennen, welches das alte Asgard bewohnte und die Reiche, die dazu gehören, und das ist das Geschlecht der Götter. Und darum mag er Allvater heißen, weil er der Vater ist aller Götter und Menschen und alles dessen, was er durch seine Kraft hervorgebracht hat. Jörd war seine Tochter und seine Frau und von ihr gewann er einen erstgebornen Sohn: das ist Asathor; ihm folgen Kraft und Stärke, daß er siegt über alles Lebendige.


10. Norwi oder Narfi hieß ein Riese, der in Jötunheim wohnte; er hatte eine Tochter, die hieß Nacht und war schwarz und dunkel wie ihr Geschlecht. Sie ward einem Manne vermählt, der Naglfari hieß: der beiden Sohn war Aud. Danach ward sie einem namens Onar (Annar) vermählt; beider Tochter hieß Jörd. Ihr letzter Gemahl war Delling, der vom Asengeschlecht war. Ihr Sohn Tag war schön und licht nach seiner väterlichen Herkunft. Da nahm Allvater die Nacht und ihren Sohn Tag und gab ihnen zwei Rosse und zwei Wagen und setzte sie an den Himmel, daß sie damit alle zweimal zwölf Stunden um die Erde fahren sollten. Die Nacht fährt voran mit dem Rosse, das Hrimfaxi (reifmähnig) heißt, und jeden Morgen betaut es die Erde mit dem Schaum seines Gebisses. Das Roß, womit Tag fährt, heißt Skinfaxi (lichtmähnig) und Luft und Erde erleuchtet seine Mähne.


Die Snorra-/Jüngere Edda, 1851 durch Karl Simrock übersetzt.

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