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~ Die Prosa-Edda Online ~
  In der Übersetzung von Karl Simrock

        Gylfaginning - Gylfis Visionen

51. Da sprach Gangleri: Was für Dinge sind zu sagen von der Götterdämmerung? Ich hörte dessen nie zuvor erwähnen. Har antwortete: Davon sind viele und wichtige Dinge zu sagen. Zum ersten, daß ein Winter kommen wird, Fimbulwinter genannt. Da stöbert Schnee von allen Seiten, da ist der Frost groß und sind die Winde scharf, und die Sonne hat ihre Kraft verloren. Dieser Winter kommt dreimal nacheinander und kein Sommer dazwischen. Zuvor aber kommen drei andere Jahre, da die Welt mit schweren Kriegen erfüllt sein wird. Da werden sich Brüder aus Habgier ums Leben bringen und der Sohn des Vaters, der Vater des Sohnes nicht schonen. So heißt es in der Wöluspa:

Brüder befehden sich und fällen einander,
Geschwisterte sieht man die Sippe brechen.
Unerhörtes ereignet sich, großer Ehbruch.
Beilalter, Schwertalter, wo Schilde klaffen,
Windzeit, Wolfszeit eh die Welt zerstürzt.
Der eine achtet des andern nicht mehr.

Da geschieht es, was am schrecklichsten dünken wird: daß der Wolf die Sonne verschlingt - den Menschen zu großem Unheil. Der andere Wolf wird den Mond packen und so auch großen Schaden tun und die Sterne werden vom Himmel fallen. Da wird sich auch ereignen, daß die Erde so bebt und alle Berge, daß die Bäume entwurzelt werden, die Berge zusammenstürzen und alle Ketten und Bande brechen und reißen. Da wird der Fenriswolf los und das Meer überflutet das Land, weil die Midgardschlange wieder Jotenmut annimmt und das Land sucht. Da wird auch Naglfar flott, das Schiff, das so heißt und aus Nägeln der Toten gemacht ist, weshalb wohl die Warnung am Ort ist, daß, wenn ein Mensch stirbt, ihm die Nägel nicht unbeschnitten bleiben, womit der Bau des Schiffes Naglfar beschleunigt wurde, den doch Götter und Menschen verspätet wünschen.

Bei dieser Überschwemmung aber wird Naglfar flott. Hrym heißt der Riese, der Naglfar steuert. Der Fenriswolf fährt mit klaffendem Rachen umher, daß sein Oberkiefer den Himmel, der Unterkiefer die Erde berührt, und wäre Raum dazu, er wurde ihn noch weiter aufsperren. Feuer glüht ihm aus Augen und Nasen. Die Midgardschlange speit Gift aus, daß Luft und Meer entzündet werden; entsetzlich ist ihr Anblick, wenn sie dem Wolf zur Seite kämpft. Von diesem Lärmen birst der Himmel: da kommen Muspels Söhne hervorgeritten. Surtur fährt an ihrer Spitze, vor ihm und hinter ihm glühendes Feuer. Sein Schwert ist wunderscharf und glänzt heller als die Sonne. Als sie über die Brücke Bifröst reiten, zerbricht sie, wie vorhin gesagt wurde. Da ziehen Muspels Söhne nach der Ebene, die Wigrid heißt; dahin kommt auch der Fenriswolf und die Midgardschlange, und auch Loki wird dort sein und Hrym und mit ihm alle Hrimthursen. Mit Loki ist Hels ganzes Gefolge und Muspels Söhne haben ihre eigene glänzende Schlachtordnung. Die Ebene Wigrid ist hundert Rasten breit nach allen Seiten. Und wenn sich diese Dinge begeben, erhebt sich Heimdall und stößt aus aller Kraft ins Giallarhorn und weckt alle Götter, die dann Rat halten. Da reitet Odin zu Mimirs Brunnen und holt Rat von Mimir für sich und sein Gefolge. Die Esche Yggdrasil bebt und alles erschrickt im Himmel und auf Erden. Die Asen wappnen sich zum Kampf und alle Einherjer eilen zur Walstatt. Zuvorderst reitet Odin mit dem Goldhelm, dem schönen Harnisch und dem Spieß, der Gungnir heißt. So eilt er dem Fenriswolf entgegen, und Thor schreitet an seiner Seite, mag ihm aber wenig helfen, denn er hat vollauf zu tun, mit der Midgardschlange zu kämpfen. Freyr streitet wider Surtur und kämpfen sie ein hartes Treffen bis Freyr erliegt, und das wird sein Tod, daß er sein gutes Schwert vermißt, das er dem Skirnir gab. Inzwischen ist auch Garm, der Hund, losgeworden, der vor der Gnipahöhle gefesselt lag: das gibt das größte Unheil, da er mit Tyr kämpft und einer den anderen zu Fall bringt. Dem Thor gelingt es, die Midgardschlange zu töten; aber kaum ist er neun Schritte davongegangen, so fällt er tot zur Erde von dem Gift, das der Wurm auf ihn gespien hat. Der Wolf verschlingt Odin und das wird sein Tod. Alsbald kehrt sich Widar gegen den Wolf und setzt ihm den Fuß in den Unterkiefer. An diesem Fuß hat er den Schuh, zu dem man alle Zeiten hindurch sammelt, die Lederstreifen nämlich, welche die Menschen von ihren Schuhen schneiden, wo die Zehen und Fersen sitzen. Darum soll diese Streifen ein jeder wegwerfen, der darauf bedacht ist, den Asen zu Hilfe zu kommen. Mit der Hand greift Widar dem Wolf nach dem Oberkiefer und reißt ihm den Rachen entzwei und das wird des Wolfes Tod. Loki kämpft mit Heimdall und einer erschlägt den anderen. Darauf schleudert Surtur Feuer über die Erde und verbrennt die ganze Welt. So heißt es in der Wöluspa:

Ins erhobne Horn bläst Heimdall laut;
Odin murmelt mit Mimirs Haupt.
Yggdrasil zittert, die ragende Esche;
Es rauscht der alte Baum, da der Riese frei wird.

Was ist mit den Asen, was ist mit den Alfen?
All Jötunheim ächzt, die Asen versammeln sich.
Die Zwerge stöhnen vor steinernen Türen,
Der Bergwege Weiser: wißt ihr, was das bedeutet?

Hrym fährt von Osten, es hebt sich die Flut;
Jörmungand wälzt sich im Jötunmute.
Der Wurm schlägt die Brandung, aufschreit der Adler,
Leichen zerreißt er; Naglfar wird los.

Der Kiel fährt von Osten, Muspels Söhne kommen
Über die See gesegelt, und Loki steuert.
Des Untiers Abkunft ist all mit dem Wolf;
Auch Bileists Bruder ist ihm verbunden.

Surtur fährt von Süden mit flammendem Schwert,
Von seiner Klinge scheint die Sonne der Götter.
Steinberge stürzen, Riesinnen straucheln,
Zu Hel fahren Helden, der Himmel klafft.

Nun hebt sich Hlins anderer Harm,
Da Odin eilt zum Angriff des Wolfs.
Belis Mörder mißt sich mit Surtur:
Da fällt Friggs einzige Freude.

Nicht säumt Siegvaters erhabner Sohn
Mit dem Leichenwolf, Widar, zu fechten:
Er stößt dem Hwedrungssohn den Stahl ins Herz
Durch gähnenden Rachen: so rächt er den Vater.

Da schreitet der schöne Sohn Hiodyns
Der Natter näher, der neidgeschwollnen.
Mutig trifft sie Midgards Weiher;
Doch fährt neun Fuß weit Fiörgyns Sohn.
Alle Wesen müssen die Weltstatt räumen.

Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer,
Vom Himmel fallen die heitern Sterne;
Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum,
Die heiße Lohe beleckt den Himmel.

Auch heißt es so:

Wigrid heißt das Feld, wo sich finden zum Kampf
Surtur und die seligen Götter.
Hundert Rasten hat es rechts und links:
Solcher Walplatz wartet ihrer.


52. Da fragte Gangleri: Was geschieht hernach, wenn Himmel und Erde verbrannt sind und alle Welten und die Götter alle tot sind und alle Einherjer und alles Menschenvolk? Ihr habt vorhin doch gesagt, daß ein jeder Mensch in irgend einer Welt leben soll durch alle Zeiten. Har antwortete: Es gibt viele gute und viel üble Aufenthalte; am besten ist's, in Gimle zu sein. Sehr gut ist es auch für die, welche einen guten Trunk lieben, in dem Saale, der Brimir heißt und gleichfalls im Himmel steht. Ein guter Saal ist auch jener, der Sindri heißt und auf den Nidabergen steht, ganz aus rotem Gold gebaut. Diese Säle sollen nur gute und rechtschaffene Menschen bewohnen. In Nastrand (Leichenstrand) ist ein großer aber übler Saal, dessen Turen nach Norden sehen. Er ist mit Schlangenrücken gedeckt und die Häupter der Schlangen sind alle in das Haus hineingekehrt und speien Gift, daß Ströme davon durch den Saal rinnen, durch welche Eidbrüchige und Meuchelmörder waten, wie es heißt:

Einen Saal seh ich, der Sonne fern,
In Nastrand; die Türen sind nordwärts gekehrt.
Gifttropfen fallen durch die Fenster nieder;
Aus Schlangenrücken ist der Saal gewunden.
Im starrenden Strome stehn da und waten
Meuchelmörder und Meineidige.

Aber in Hwergelmir ist es am schlimmsten:

Da saugt Nidhöggr der Entseelten Leichen.


53. Da sprach Gangleri: Leben denn dann noch Götter und gibt es noch eine Erde oder einen Himmel? Har antwortete: Die Erde taucht aus der See auf, grün und schön, und Korn wächst darauf ungesäht. Widar und Wali leben noch, weder die See noch Surturs Lohe hatte ihnen geschadet. Sie wohnen auf dem Idafeld, wo zuvor Asgard war. Auch Thors Söhne, Modi und Magni, stellen sich ein und bringen den Miölnir mit. Danach kommen Baldur und Hödur aus dem Reiche Hels: da sitzen sie alle beisammen und besprechen sich und gedenken ihrer Heimlichkeiten, und sprechen von Dingen, die vordem sich ereignet, von der Midgardschlange und dem Fenriswolf. Da finden sie im Grase die Goldtafeln, welche die Asen besessen haben. Wie es heißt:

Widar und Wali walten des Heiligtums,
Wenn Surturs Lohe losch.
Modi und Magni sollen Miölnir schwingen
Und zu Ende kämpfen den Krieg.

An einem Ort, Hoddmimirs Holz genannt, verbargen sich während Surturs Lohe zwei Menschen, Lif und Lifthrasir genannt, und nährten sich vom Morgentau. Von diesen beiden stammt ein so großes Geschlecht, daß es die ganze Welt bewohnen wird. So heißt es hier:

Lif und Lifthrasir leben verborgen
In Hoddmimirs Holz;
Morgentau ist all ihr Mahl.
Von ihnen stammt ein neu Geschlecht.

Und das wird dich wunderbar dünken, daß die Sonne eine Tochter geboren hat, nicht minder schön als sie selber: die wird nun die Bahn der Mutter wandeln. So heißt es hier:

Eine Tochter entstammt der strahlenden Göttin
Eh der Wolf sie würgt.
Glänzend fährt nach der Götter Fall
Die Maid auf den Wegen der Mutter.

Wenn du aber nun weiter fragen willst, so weiß ich nicht, woher dir das kommt, denn nie hört ich jemanden mehr von den Schicksalen der Welt berichten. Nimm also hiermit vorlieb.


54. Darauf hörte Gangleri ein großes Getose rings um sich her. Und als er sich wandte und recht um sich blickte, fand er sich alleine stehen auf einer weiten Ebene und sah weder Halle noch Burg mehr. Da ging er seines Weges fort und kam zurück in sein Reich und erzählte die Dinge, die er gehört und gesehen hatte, und nach ihm erzählte einer dem anderen diese Geschichten.

 

Die Snorra-/Jüngere Edda, 1851 durch Karl Simrock übersetzt.

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